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Channel: Manuel Brug – Brugs Klassiker
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En saga-hafter Järvi-Familiengipfel mit Sibelius: In Pärnu spielt der estnische Clan endlich zusammen. Aber auch andere haben schöne Kammermusiktöne

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Das Party-Paradies von Pärnu ist endlich wieder das Passion Café mit Bier und Pasta. Alles wie immer? Fast. Nach einem Kammerkonzertabend beim Pärnu Musikfest mit naturgemäß kleiner Besetzung wird im üblichen Festival-Wasserloch etwas reduzierter gefeiert. Selbst der sonst so resistente Paavo Järvi schaut zwar als nicht nur gütiger Festspielherbergsvater vorbei, verschwindet aber rotweinlos nach einer kleinen Bowlenschüssel voll Gin Tonic zur dringend notwendigen, heute verlängerten Rekreationsphase. Die anderen Recken sind ebenfalls müde, diese Programme müssen dem eh schon dicht gedrängten Probenplan abgetrotzt werden. Aber sie sind umso vehementer gewollt, denn hier finden noch intensivere Begegnungen zwischen den estnischen wie den internationalen Musikern statt. Und man kann Jahr für Jahr sehen und hören, wie die Künstler sich weiterentwickeln, öffnen, auf einander hören. Neben seiner teetrinkenden Frau ebenfalls der eigentlich ständige Gast Erkki-Sven Tüür im Café Platz genommen, denn für diesen Abend hat er zudem das sehr schön und dicht gewirkte Programm konzipiert. Das haben vielleicht nur vergleichsweise wenige intensiv genossen, denn, so hat mittags beim Lunch der Stellvertretende Bürgermeister erzählt, hier gehen sonst ganz andere Events ab. In Pärnu jagt ein Festival das andere. Gerade treffen sich etwa die estnischen Segler; man kann von der Terrasse des wunderfeinen Art Deco Rannahotell die Boote weit draußen auf dem Meer sehen. Und zur DJ Party mit David Guetta versammelten sich gleich 350.000 Menschen am nur auch wieder nicht sooo breiten Strand.

Da ist man froh, den jetzt halbleer entlangradeln zu können. Am Ende, wenn die Natur wieder die Regie übernimmt, grasen Kühe, heben sich Vogelschwärme über dem Schilf. Die Kontraste ereignen sich hier schnell, ebenso von den heimeligen Sommerholzhäusern zu den Plattenbauten.

In der Konzerthalle aber haben sich die Kammermusik-Geneigten zu einem intelligenten Abend der Extra-Klasse zusammengefunden. Für Tüür war das Streichsextett von Erich Wolfgang Korngold, das er erstmals in Heimbach beim Spannungen Festival von Lars Vogt gehört hat, der gedankliche Ausgangspunkt. Darum herum hat er freilich Musik der Zweiten Wiener Schule arrangiert, das erstaunliche Werk des 17-jährigen Korngold steht neben Miniaturen der zehn Jahre älteren Komponisten Alban Berg und Anton Webern. Auf dessen Bagatellen für Streichquartett antwortet hingegen der ebenfalls juvenile György Ligeti mit seinem meisterlich witzigen Bläser-Bagatellen. Und in der ursprünglich einmal während seiner Wiener Studienzeit von Jean Sibelius wls Septett konzipierten En Saga lassen sich vor der Pause gleich fünf Mitglieder des Järvi Clans als En-Saga-hafter Familienmusiziergipfel vernehmen.

„Dieser Augenblick, der keine Entwicklung kennt und keine Zeit, wird gleichwohl in der Zeit entfaltet“, schreibt Adorno über das Berg-Opus 5. Sekundenkurze Klangfetzen und Motivmomente, verhaucht oder überblasen, letztes Jugendstilgerank, schon atonal behängt. Der charismatische Klarinettist Matt Hunt von der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen und der Pianist Maksim Stsura spielen das mit klarer Präsenz und Dringlichkeit. Und ihr Lohn, wie der aller anderer, ist eine Rose, für deren Überreichung bekommen wir sehr oft die vermutlich hässlichste Personaluniform zumindest Estlands zu sehen, hautfarbenbeiger Faltenrock mit hohem Schlitz und Underpanties, dazu eine fies rotgerüschte Bluse. Aber auch der seniorenhafte Herrenlook der bedauernswerten Träger ist nicht besser! Das Pernu Festival braucht unbedingt eigenen Uniformen. Dafür musste sich doch ein schicker Sponsor finden lassen.

Wir schweifen ab. Für Weberns ebenfalls spukhaft kurze Bagatellen Opus 9 sind Artur Podlyesniy (hr-Sinfonieorchester), Adela-Maria Baratu (Dresdner Philharmonie), Veit Hertenstein (Orion Trio) und Johannes Välja (Münchner Musikhochschule) angetreten. Sie spielen sie mit aphoristischer Stringenz und feinem Tonfall. Ihre Kürze hat viel Würze.

Etwas ausladender kommen die die 1953 aus einem Klavierzyklus destillierten Sechs Bagatellen Ligetis daher, zudem mit viel Witz – was der fabulöse Flötist Michel Moragues vom Orchestre National de France noch zu steigern weiß, indem er gleich im ersten Satz sein zusätzlich zum Einsatz kommendes Piccolo stoisch aus der Smoking-Innentasche zieht. So merkt man kaum, dass die einzelnen Sätze auf nur ganz wenigen Tönen beruhen, die auf stetig andere Instrumente verteilt und um Oktavlagen versetzen werden. Zudem ändern die Musiker ständig ihre Klangfarben zur eine vielfarbige Suite von überaus pfiffigen, ja skurrilen Bläserminis. Die Besten aus der Holzfraktion des Estonian Festival Orchestra sind hierfür angetreten: neben Moragues, Oboist Riivo Kallasmaa (NDR Elbphilharmonie Orchester), Matt Hunt, Fagottistin Rie Koyama (Deutsche Kammerphilharmonie) und Hornist Björn Olsson (Royal Swedish Orchestra). Und die begeistern schon mit dem jagdstückartigen Auftakt.

Denkwürdiger Mittelpunkt dieser Kammer-Gala: drei im heimatlichen Flaggen-Schwarzblau (das Weiß müssen wir uns dazu denken) gekleidete Järvi-Streicher-Geschwister und Großcousin/Cousine von Paavo/Kristjan sowie Neemes Flötistin-Tochter und ein weiterer Cello-Järvi, voilà Miina, Martin, Madis, Marius und Maarika sowie Klarinettistin Signe Sõmer und Bassistin Regina Udod (beide Estonian National Symphony Orchestra). Die freilich hatten schwer mit der spröden Bearbeitung (Gregory Barrett, 2003) des melancholisch düsteren, eigenbrödlerisch mäandernden Sibelius-Stücks zu kämpfen. So entbeint, offenbart es nur seine Schwächen, und mit Dirigent wäre da sicher noch mehr Gleichklang und Stringenz herauszuholen gewesen. Trotzdem: Was für ein könnerisches Zusammentreffen. Diese Familie hat einfach Musik in der DNA.

Das schönste, reichste Werk freilich ist der zweiten Konzerthälfte vorbehalten: das allzu selten zu hörende Korngold-Streichersextett. Festivalorchester-Konzertmeister Florian Donderer (Deutsche Kammerphilharmonie), zugleich eine der Stützen bei der Musikerauswahl, Geiger Robert Traksmann (frei), die Bratscher Andres Kaljuste (Estnische Hochschule) und Mari Adachi (L’Estro Armonico Quartett), die Cellisten Georgi Anichenko (La Monnaie Orchester) und Theodor Sink (Estonian National Symphony Orchestra) spielten das mustergültig ausbalanciert und mit großem, schwingenden, immer flexiblem Ton. Die Eigenart Korngolds, natürlich eingebettet in dem zwischen Traum und Wirklichkeit oszillierenden Jahrhundertwendeklang Wien, aber nie andere imitierend, kommt mustergültig zum Tragen und Glänzen. Fein herausgearbeitet wird die ausgeklügelte Leitmotivik, die sich mit reicher spätromantischer Harmonik verbindet. Die beiden Streichsextette von Brahms klingen nach, ebenso Schönbergs „Verklärte Nacht“, dessen dichte Polyphonie dem Jungen noch unerreichbar bleibt. Doch Opernhaftes und Träumerisches, ja auch Filmmusikvorausahnendes, beherrscht bereits der frühe Korngold. Ein großartiges Plädoyer für einen Komponisten (siehe die aktuellen Opernspielpläne), dessen Zeit nun wirklich gekommen scheint. Und den auch die Esten mit begeistertem Staunen hören.

Dann endlich ist wirklich Zeit für Passion sowie die eine oder mehrere der vielen lokalen Biersorten…

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