Am Naiderand in Pärnu, da dürfen nur die Frauen zu liegen kommen, denn das heißt Damenstrand, ganz rechts außen bei den Dünen. Ansonsten ist es hier so herrlich altmodisch wie man möchte und so zeitgemäß wie es bequem ist. Man hört nur Estnisch und Russisch am selbst Feriensonntags nicht übervollen Strand. Kaum einer schreit, die Radios bleiben halblaut, keine Verkäufer nerven. Weil man hier 50 Meter knöchel- und weitere 50 knietief laufen muss, bis die kaum salzige Ostsee beschwimmbar wird, ist es ein Kinderparadies. 24 Grad hat die Luft, angenehm ist es im Wasser. Leichte Brise herrscht, die die Birken rascheln lässt. Das hier ist nostalgische Sommerfrische pur. Pärnu steht aber schon seit Jahrzehnten für Festivals und fünf Dezennien hat diese Oberguru Neeme Järvi mitgeprägt. Es begann 1970 mit einem Beethoven-Fest, so wie nächstes Jahr auch wieder. Dann folgten die Meisterklassen aus denen schließlich das Pärnu Music Festival erwuchs für das sein Sohn Paavo verantwortlich zeichnet. Beide, und auch Kristjan Järvi sowie als Seele des Betriebs Leonid Grin, unterrichten die Dirigenten, den neben den Konzerten sind die Akademien ein wesentlicher Bestandteil der Aktivitäten. Und aus denen wiederum speisen sich das Järvi Academy Chamber Orchestra und das Järvi Youth Symphony Orchestra.
Das hat dann im Abschlusskonzert der Dirigentenklasse seinen großen Auftritt, muss sich nach jedem Satz auf ein neues Schlagtemperament und einen anderen Charakter einlassen, die sich hier im fliegenden Wechsel, zum Teil mitten im Satz den Taktstock in die Hand geben. 18 internationale Kandidaten waren diesmal dabei, elf durften öffentlich auftreten. Und man hat es ihnen mit einer bunten Auswahl von Stücken nicht eben leicht gemacht. Gern hätte man von der Estin Maria Sletskaja mehr gehört, die unübersehbar bereits eine Ballettkarriere hinter sich hat und in Deutschland bereits Tanzabende dirigiert. Das arg simple Pastoral-Stück Bucolic der estnischen Tonsetzer-Doyenne Ester Mägi verlangt ihr kaum mehr als eine sanft ordnende Hand ab, während zu Mitte den etwas rhythmischeren Teil Eirik Haukaas Ødegaard übernimmt.
Selten auch im Konzert zu hören ist Arthur Honeggers teilweise sehr laut um Weltfrieden kreischende Symphonie liturgique. Doch beim Orchester, insbesondere in der fluid-stoßfesten Bläserfraktion, scheint sie vertrauter als bei dem Trio am Pult. Der Este Edmar Tuul befeuert das aus lockerem Handgelenk, die Britin Stephanie Childress bleibt im Allegro moderato seltsam steif und passiv. Der Russe Yaroslav Zaboryakin geht im wild wüsten Finale nicht wirklich aus sich heraus, versucht die sichere Nummer und langweilt nur.
Das große Gähnen herrscht leider auch bei dem unsäglich banalen Doppelkonzert für Geige und Viola von Max Bruch. Für Baujahr 1913 ist das so was von transusig uninspiriert, auch in der etwas kontrastreicheren Originalfassung mit Klarinette. Das Orchester hat rein gar nichts zu tun, Triin Ruubel und Mari Adachi in nicht eben augenfreundlichen Roben fiedeln das routiniert weg, und auch die drei Pultkandidaten wedeln nur müde im Takt. Da ist nichts zu holen und zu beweisen.
Und auch Mozarts Prager Sinfonie beweist einmal mehr, das sich die Mainstream-Dirigenten damit offenbar immer noch unendlich schwer tun. Natürlich ist eine 16er Streicherbesetzung eine Hypothek, aber etwas mehr Schlankheit, Temperament, Flitzigkeit und Kontrastschärfe hätte man bei allen dreien erwarten können. Am ehesten bemüht sich noch im Andante Sakari Oramus Sohn Taavi. Aber nach der Hälfte verlassen auch ihn Puste und Inspiration.
Trotzdem große Freunde im wieder vollen Saal, das Dozenten-Trio (Urvater Neeme ist unpässlich) wird ganz toll gefeiert, und das sonst dem Papa vorbehaltene Traditions-Encore, Sibelius‘ Andante festivo, wird diesmal von Kristjan mit große Gestik durchgeschwungen, von der immensen Streicherbrigade aber mit feinster Synchronität und edelstrahlendem Klang zum Glänzen gebracht.
Und Feiern können auch die Jungen. „Terviseks“ schallt es im Passion. Prost auf Estnisch sei einfach zu merken, sagt trocken Paavo J. Man müsse nur an „terrible sex“. – Aber das klingt doch eher wie „Järvi Sex“, kommt der unvermeidliche Einwurf. Paavos Mine wird noch nussknackerhafter: „Der ist nicht terrible.“ Stimmt, diese Familie mehrt sich sehr fruchtbar im Dienste der Musik. Denn schon wieder ist Nachwuchs unterwegs.
Apropos Sex. Den mögen die Esten offenbar gemalt im Sommer gern. Sieht man jedenfalls all die nackten Leiber, die sich einem in dem grottenhäßlichen, offenbar aus russischer Betonunnatur sich zwischen den Holzdatschen breit machenden Pärnu Uue Kunsti Muuseum, wo sehr sonntagsmalerig die Moderne gezeigt wird. Und eine eindrückliche streng schwarzweiße Naturbilder-Hommage an Ansel Adams des bekannten Fotografen Kaupo Kikkas. Passend und von seinen Bildern umrahmt, gibt es schon nachmittags eine Musikstunde mit kammermusikalischen Liedern im Tintinnabuli-Stil Arvo Pärts für Countertenor, ein Flöten-Solo und das vogelstimmenfeine 2. Streichquartett von Peteris Vasks. Der legendäre Lette ist auch da, umarmt und küsst viel.
So breitet sich das Festival fast bis zu den Badenden aus. Auch wenn die nur aus Ton geformt sind. Und die Originale am Naiderand dann doch interessanter sind. Aber ähnelt das wellenförmige Festival-Logo nicht irgerndwie auch einem etwas verrutschten BH?
Der Beitrag Pädagogik in Pärnu: Und was es mit dem oft beschworenen schlechten Sex der Esten auf sich hat erschien zuerst auf Brugs Klassiker.