Diese Geschichte ist so verrückt, dass sie eigentlich nur in der Wahnsinnswunderwelt der Oper passieren kann. Möge sie der Hautbeteiligte Andreas Schager bitte selbst erzählen: „Im April 2014 sollte ich am Schiller Theater eine Vorstellung ,Götterdämmerung’ singen, bei der mich Daniel Barenboim testen wollte. Ich hatte gerade Probe, war noch im Haus, als Lance Ryan nicht rechtzeitig zum ,Siegfried’ kam. Zehn Minuten vor Beginn hat man mich gefragt, ob ich in der Titelrolle einspringen könne. So kam es zu meinem vorzeitigen Barenboim-Debüt.“
Aber es geht noch absurder weiter: „Ich konnte von der Seite nur einen Akt singen, der Regieassistent hat gespielt, denn um 18 Uhr musste ich in der Philharmonie sein, wo ich unter Simon Rattle als Erster Geharnischter in der ,Zauberflöte’ aufzutreten hatte. Zum Glück war Ryan dann da, hämmerte sogar die Schmiedelieder im Finale noch mit, da waren wir dann also drei Siegfriede – Weltrekord! Und zwei Tage später, nach dem ersten Akt ,Götterdämmerung’, ließ Barenboim durch seine Assistentin anfragen, ob ich mir künftig eine musikalische Heimat an seinem Haus vorstellen könnte. Da sagt man nicht nein.“
So ist es Andreas Schager passiert, damals, 43 Jahre alt. Da ist man vielleicht schon ein wenig abgebrühter, aber spätestens jetzt dürfte diesen Sänger nichts mehr schrecken. Zumal er jetzt alles erreicht hatte, oder fast: Denn inzwischen hat sich auch der Grüne Hügel gemeldet und so muss sich Daniel Barenboim seinen Lieblingstenor, mit dem er kürzlich wieder einmal „Fidelio“-Premiere in Berlin feierte, künftig mit Bayreuth teilen. Bis mindesten 2025. Denn eigentlich war Schager erst für nächstes Jahr als „Parsifal“-Ersatz für Klaus Florian Vogt vorgesehen, der in die „Meistersinger“-Neuproduktion wechselt. Doch dann wollte ihn Katharina Wagner schon im Sommer 2016 als „Holländer“-Erik – und als Parsifal sprang er auch gleich noch einmal für den kranken Kollegen ein. Gute, gelaufen. Wieder mal. Und der Siegfried ab 2020 ist somit noch sicherer.
Die schlimmste Heldentenorpartie an einem Abend (wenn auch nur einen Akt) und gleichzeitig eine Mini-Rolle, dazu noch eben beendete letzte Operettenverpflichtungen als Barinkay im „Zigeunerbaron“ das war das sehr verrückte Sängerleben des Andreas Schager im Jahr 2014. Inzwischen ist es in geordnete Bahnen eingemündet. Die sieben schwersten Wagner-Partien führt er gegenwärtig im Repertoire, dazu noch den „Freischütz“-Max, Beethovens Florestan, ein wenig Strauss und zum Stimmölen seit langer Zeit mal wieder ein paar Taminos. Und Liederabende. Dafür muss er kämpfen. Denn Andreas Schager ist bis 2023 eigentlich ausgebucht. Die großen Wagner-Partien werden nämlich an den bedeutenden Opernhäusern als erstes besetzt. Und alle wollen Scharger. Der ist groß, schlank, sieht gut aus. Kann spielen, ist allürenfrei, hat Reserven. Und, ach ja, eine sehnige, belastbare, klar durchdringende Tenorstimme, die ziemlich laut werden kann, aber generell kultiviert geführt wird, die hat er auch noch. Ein Sechser im Wagner-Lotto also.
Der Weg dahin war lang, nie so gedacht, und am Ende doch sehr folgerichtig. Weil hier ein grundsympathischer, reflektierender Künstler mit ganz viel Naturbuschenaroma in den richtigen Rollen am richtigen Platz steht. Der über seine eigene Karriere sagt: „Es hat sich so ergeben, ich hatte keinen Plan, das mache ich auch heute nicht. Mir hat das gut getan. Es war richtig so. Ich habe Vertrauen in das Schicksal. Wenn ich mir Druck gemacht habe, ist es meist schief gegangen.“
Andreas Schager stammt aus einer Landwirtschaft in Niederösterreich. Rohrbach an der Gölsen, Voralpen, 1800 Einwohner. Dieses Jahr hat der Bürgermeister für den berühmtesten Sohn der Gemeinde ein Open-Air-Konzert organisiert. Und 1300 Leute kamen. Man wollte doch wissen, wie der klingt, der es aus dem Bauernhof über den Bettelstudenten bis hin zu Barenboim und nach Bayreuth geschafft hat. „Die Rollen, die ich singe, etwa Siegfried oder Parsifal, haben sehr viel mit meiner Vergangenheit zu tun“, weiß Schager. „Auch Siegmunds ,Durch Wald und Wiese, Heide und Hain, jagte mich Sturm und starke Not’, das löst bei mir sofort konkrete Erinnerungen aus, Siegfried, der im Wald Spielgefährten sucht, das verstehe ich, das hilft mir bei der Rollengestaltung enorm. Der Wald ist für mich nicht nur in der Musik, sondern auch im Kopf.“
Musikalisch geht es zu in seiner Familie, nach der Heuernte etwa hat man immer die Instrumente hervorgeholt. Die Arbeit ist getan und Singen war dann so etwas wie eine Belohnung. Im Kirchenchor war er natürlich auch: „Und ich bin gern im Grünen, übe heute auf dem Bauernhof meiner Schwester und bei Wanderungen auf Berge und im Wald meine Partien. Die Emotion macht den Ton, den ich sende, das kann ich in der Weite der Natur besonders gut. Einmal hörte ich draußen ,Parsifal’ mit Kopfhörer und sang dazu, plötzlich standen hinter mir zwölf Kühe in einer Reihe.“
Schagers älterer Bruder macht noch heute Volksmusik, ist so durch die ganze Welt gekommen. Er selbst war im Stiftsgymnasium in Melk im Chor, hatte damals schon Soli bekommen. Nach dem Abitur, der Vater starb früh, geht er nach Wien, wollte Lehrer für Theologie und Geschichte werden, das hat nicht lange funktioniert. Ein Freund nimmt ihn mit in die Wiener Singakademie, den Chor des Konzerthauses. Unter Abbado singt er er Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“, rafft noch nichts wirklich, aber es der musikalische Beginn. Er singt auf Toplevel, aber als Laie, bald auch wieder Soli. Als probiert er die Aufnahmeprüfung an der Hochschule, wird für das Kurzstudium genommen, Lied und Oratorium mit nur zwei Titeln im Repertoire. In drei Jahren ist er durch. Es gibt Preise.
1999 hat Andreas Schager als Ferrando in Mozarts „Cosí“ sein Operndebüt im Schönbrunner Schlosstheater, dann singt er bei den Seefestspielen Mörbisch den Ottokar im „Zigeunerbaron“. Nahtlos wird er ab 2000 Ensemblemitglied bei den Vereinigten Bühnen Krefeld-Mönchengladbach, tritt dort freilich fast nur in Operettenrollen auf. Gastiert ein wenig, bleibt drei Jahre. Und arbeitet dann frei, vorwiegend bei Wiener Operettentourneen auf Deutsch durch Belgien und Holland. Geprobt wird in Polen mit dem Orchester. Dann folgen meist 18 Abende hintereinander, manchmal sogar Doppelvorstellungen, dazwischen vier bis fünf Stunden Busfahrten. „Das war eine Superschule“, erinnert er sich. „Ich habe da viele Erfahrungen gesammelt, die mir jetzt noch helfen, auch angeschlagen durch einen Abend zu kommen. Ich musste mich nie vor einer Vorstellung fitspritzen lassen. So lasse ich mich auch nicht von jedem Zipperlein beeinträchtigen. Einfach raus und den Emotionen freien Lauf lassen. Oft sind das dann besonders gute Vorstellungen geworden.“
Das geht über Jahre so: „2007 aber wurde ich dem Dirigenten Gustav Kuhn vorgestellt. Der ließ mich vorsingen, eine Bachkantate, und am nächsten Tag musste ich für den erkrankten Tenor in der Neunten Beethoven einspringen, die ich gerade seit einer Woche im Repertoire hatte. Daraufhin hat er mir für 2009 den David in den ,Meistersingern’ bei seinen Erler Festspielen angeboten. Das war, mit einer spielerisch-buffonesken Rolle, die mir sehr entgegenkam, mein Eintritt in die Wagnerwelt. Gelernt habe ich die im Operettentourbus.“
Dann kam in Erl der Steuermann im „Holländer“ und dann Rienzi in Meinigen, denn den konnte keiner und wollte es auch nicht – für die dortige Gage. Inzwischen hat er Wagners erste Heldentenorpartie noch in Madrid, Rom, Riga, und Leipzig gesungen. Gustav Kuhn, der an ihn glaubte, hat ihm Florestan angeboten, aber das war es dann auch. Andreas Schager wurde gnadenlos anderswo abgewiesen – wegen seines Lebenslaufes. Hier Dreivierteltakt-Frohsinn und da hehre Kunst, für viele Opernmenschen, vor allem für Agenten und Castingchefs, ist das ja fast so als ob man mal Pornodarsteller gewesen wäre. Schager war in einer Schublade. Mit einem kleinen Trick aber kam er wieder zur großen Oper.
„Strabag-Chef Hans Peter Haselsteiner, der Erl finanziert, hat mir den guten Rat gegeben, bei meinem eigentlichen Namen Schagerl, das „l“ wegzulassen, dass man nicht gleich auf meine Operettenvergangenheit stößt, wenn man meinen Namen im Internet sucht. Dafür aber gab es jetzt plötzlich den Heldentenor Schager, ein 36-Jähriger mit einem blütenweißen neuen Lebenslauf, nur drei Zeilen und ein paar Wagnerrollen, aber eben den richtigen Zeilen. Und prompt wurde ich zu Vorsingen eingeladen, die dann auch sofort geklappt haben.“ Und schon drei Jahre später ist der eben-noch-David fett im Heldentenorgeschäft. 2012 kommt der erste Siegfried im „Ring“ in Halle/Ludwigshafen unter dem ehemaligen Berliner Philharmoniker Karl-Heinz Steffens, der ihn gleich an seinen Förderer Daniel Barenboim weiterempfiehlt. Gleichzeitig singt er noch „Gräfin Maritza“ in Dresden und „Orpheus in der Unterwelt“ („Ich breche keine Verträge“) und debütiert als Tristan beim vielbeachteten Wagnerverband in Minden. Eva Wagner-Pasquier ist da. Da war eigentlich alles schon gelaufen.
„Meinen ersten Siegfried habe ich ganz mathematisch durchgeschaut, Höhe, Lage, Länge, wie viele Noten? Dann habe ich gesehen, das ist ungefähr so wie eine Doppelvorstellung ,Zigeunerbaron’. Das kann ich, also geht der Wagner auch. Das hat sich dann auch bewahrheitet. Der Operette sei Dank!“ Andreas Schager hadert ein bisschen mit der ewigen Wagner-Schmalspurdiät, die der Betrieb diktiert: „Ich bin laut, deshalb suche ich immer wieder Möglichkeiten, mich zurückzunehmen.“ Er hat schöne Anfragen im italienischen Fach ablehnen müssen, auch wieder High End, gleich dreimal den Otello, einmal Verdis „Forza“. Aber der Terminkalender ist schon voll. Was ihm aber wichtig ist, sind Liederabende. Eben hat er seinen ersten absolviert in der Frankfurter Alten Oper. Ein Anfang. Aber damit will er unbedingt weiter machen.
Heute lebt Andras Schager als Barenboims Tenor, fest im Staatsopern-Ensemble mit 15 Abenden, halb in Berlin und halb in Wien, wo seine Freundin, die Sologeigerin Lidia Baich, ihr Domizil hat. Dort ist er immer noch der Herr Baich, der noch nie an der Staatsoper gesungen hat, dafür 2019 das New Yorker Met-Debüt in der Tasche hat. Er hat noch nicht mal einen Wikipedia-Eintrag. Nix Superstar bei ihm, er hat gar keine Zeit dafür. Und er kann entspannt sagen: „Ich profitiere von meiner Herkunft. Ich habe Bescheidenheit gelernt und es hat mich geerdet. Arbeit wurde zu Hause nie in Frage gestellt. Wenn etwas anstand, musste es gemacht werden. Es gab keinen Unterschied zwischen Arbeit und Freizeit. Diese Einstellung hilft mir heute in einem Beruf ohne feste Arbeitszeiten sehr. Das macht mich flexibel. Auch wenn ich nicht mehr Kühe melken muss.“
Besonders Daniel Barenboim ist gut für ihn, „ein Visionär, der spürt, was da kommt. Er fand auch meine Vergangenheit mit Operette als goldrichtig und überlegte sofort, eine mit mir auf den Spielplan zu setzen. Gerne! Vielleicht also noch mal ,Zigeunerbaron’? Dann hätte sich der Kreis geschlossen.“
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