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Channel: Manuel Brug – Brugs Klassiker
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Kein Musikbuch: „Tanz in die Freiheit“ von Susanne Betz

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Heute mal021_10211_169346_xxl nichts Musikalisches (obwohl hier die Marseillaise und „Ça ira“ gesungen werden), immerhin aber kommt Tänzerisches vor – nicht nur als wilder Bewegungstaumel einer Gesellschaft unter sehr besonderen Umständen, sondern gleich im Titel: „Tanz in die Freiheit“ ist der dritte Roman meiner lieben Freundin Susanne Betz. Die sich neben ihrer Tätigkeit als sehr erfolgreiche Politikredakteurin beim Bayerischen Rundfunk alle paar Jahre (mit Billigung ihres Mannes) gern literarische Seitensprünge in historische Epochen leistet, bevorzugt angesiedelt im späten 18., eben sehr revolutionären Jahrhundert. Das auch den Frauen neue Möglichkeiten und Lebensperspektiven bietet. Nach ihrem Erstling „Falkenjagd“ (2008), in dem die Ansbacherin das Schicksal der dorthin verheirateten Friederike von Preußen, einer Schwester Friedrich des Großen, anschaulich romanhaft aufbereitete, folgte 2011 „Der elektrische Kuss“ als gelungene Melange aus naturkundlichen Pionierexperimenten und dem Leben der Amischen in der Pfalz.

In ihrem dritten Buch weitet sich die Perspektive nun aus dem beschaulich engen, aber eben auch engstirnigen und gesellschaftlich streng geregelten Weimar der Goethezeit bis ins durch Freuden wie Schrecken der Revolution taumelnde Paris. Und sie weitet den Blickwinkel auch durch unterschiedliche Erzähler, denn ein Geschwisterpaar beschreibt hier aus differenzierten und doch enger beieinanderliegenden Sichtweisen seine Erfahrungen während der Jahre 1791 bis 1793 – plus einem 1806 spielenden Epilog während der Napoleonischen Besatzung in Hamburg.

Hier wird frei fantasiert und fabuliert, aber Susanne ist Historikerin und kann beruflich Zeitgeschehen sehr genau einordnen und in wenigen Sätzen bündeln. Sie weiß, vor welchem Hintergrund sie was spielen lässt, welche Ereignisse sie herausleuchtet und welche historischen Größen und Vorfälle nur belegbare Staffage bilden. Sie unterlässt es geschickt, sich an vielfach bekannten und beschriebenen Figuren neuerlich abzuarbeiten. So bilden anfänglich die dünkelhaft vertrocknende Frau von Stein und die einfache, herzensgute spätere Goethe-Gattin Christiane Vulpius, die als uneheliche Olympier-Gespielin das neu erworbenen Nachbarshaus am Frauenplan schon mal warmwohnt, die beiden weibliche Extreme, zwischen denen sich die freisinnige Protagonistin Eleonore im ersten thüringischen Expositionsdrittel zu positionieren versucht.

Goethe selbst tritt nicht auf, genauso wie im Pariser Hauptteil Robespierre, Danton, Saint-Just & Co. nur aus der Ferne beobachtet werden. Während weniger bekannte Figuren aus der zweiten Widerständler- und Reformatorenreihe wie der Philosoph und Mathematiker Marie Jean Antoine Nicolas, Marquis de Condorcet oder die geschäftige Frauenrechtlerin Olympe de Gourges, die beide voraussahen, dass die Revolution sie und andere Kinder fressen würde, hier kenntnisreich, plastisch und lebensprall porträtiert sind.

Gefällt sich der Weimar-Abschnitt noch ein wenig zu sehr in Beschreibungen und zu vielen Metaphern, so nehmen Geschehen und Stil mit der Besteigung der ersten Postkutsche Richtung Frankreich schnell Fahrt auf, werden lebendig und mitreißend, bleiben aber flüssig und geschmeidig. Hier wird nichts überhetzt, sondern gut beobachtet und schön mit Worten skizziert.

Im Mittelpunkt: Zwei halbwüchsige Halbwaisen von Adel, Eleonore nonkonformistisch, freiheitsliebend und spontan ihren Gefühlen nachgebend, Felix angepasster, von scharfem Verstand, der Emotionen erst zulässt, als er paradoxerweise bemerkt, dass er wohl schwul ist und seine Beziehungen zukünftig wird heimlich leben müssen. Sie reisen ausgerechnet als in Paris der dritte Stand zu marschieren beginnt, dorthin, um die von Geheimnissen umgebene Erbschaft ihrer Mutter anzutreten und dabei einiges über ihre Herkunft zu entdecken. Hitchcock hatte diesen Vorwand einen McGuffin genannt, etwas, was man suchen muss, damit die Handlung startet. Hier ist die Reise natürlich eine Flucht aus dem sich großmächtig dünkenden Provinznest, hin zur Lichterstadt, die schon vorher und nachher so viele Deutsche fasziniert hat.

In Paris lernen beide eine Vielzahl von Lebensentwürfe und Charaktere kennen, man taucht ein in den Menschenstrudel auf den Boulevards, den Glanz der Salons, die dicke Luft in den Debattierclubs, aber auch in das syphilitische Elend der Prostituierten, rutscht aus in den Blutlachen auf den Straßen und am Revolutionsplatz unter der kalt glänzenden Guillotine. Und so beginnt sich die sozial engagierte Eleonore notgedrungen auch für Politik zu interessieren während Felix Menschenkenntnis lernt.

Historische Romane haben immer das Problem, entweder zu schöngeistig zu sein und so die nur an Sex + Crime zwischen kaum angedeuteter Kulissenschieberei interessierte Masse zu überfordern, oder als zu banal und literarisch schlicht von anspruchsvolleren Lesern verachtet zu werden. Susanne Betz aber gelingt in ihrem schön, souverän und originell komponierten Roman ein guter Mittelweg zwischen elaboriertem Schreiben, das auch die fern gerückte Epoche sprachlich andeutet, ohne altertümlich zu wirken und in ihrem doch vielfach heutigen Denken für den Leser spannenden, nie nur papieren raschelnden Figuren.

Ihre Fantasiegeschöpfe fügt sie zwangslos ein zwischen ausgeschmückte Vignetten wirklicher Personen (über die man durchaus etwas lernen kann). Natürlich wechseln sich Action- und reflektierende Sequenzen ab, die permanente Verschiebung der Erzählperspektive sorgt für Lebendigkeit. Und so wird Paris wieder einmal selbst im politischen Terror zum Fest des Lebens, aber auch zur éducation révolutionnaire, die eben als Tanz in die Freiheit die Geschwister geistig und ideel reifen, ihr Dasein in die Hand nehmen lässt. Hier finden sie Freunde und Geliebte – vor allem aber sich selbst.

Und als Eleonore und Felix nach zwei intensiven Jahren als stets Privilegierte reich an Geld und Erfahrungen während des Höhepunkts der Wohlfahrtsausschuss-Raserei ihr Schicksal via England wieder nach Deutschland lenken, ist eines klar: in das kleine, sich selbstgefällig im Klassikerglanz zu sonnen beginnende Weimar finden sie nie wieder zurück. Dafür wurden zu viele Zöpfe, echte wie gedankliche, abgeschnitten. Das tut dann Thomas Manns „Lotte in Weimar“ mit böser Beobachtungsgabe. Doch das ist eine ganz andere Geschichte.

Susanne Betz: Tanz in die Freiheit (C. Bertelsmann)

 

Der Beitrag Kein Musikbuch: „Tanz in die Freiheit“ von Susanne Betz erschien zuerst auf Brugs Klassiker.


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