„O Wort, du Wort, das mir fehlt.“ Mit eben diesen Worten endet Arnold Schönbergs „Moses und Aron“, eines der beiden großen Opernfragmente des 20. Jahrhunderts. Und dabei bleibt es heute meistens auch. Vorbei die Zeit, als der nicht vertonte dritte Akt nur gesprochen wurde. Der Komponist hatte schließlich genügend Muse, ihn zu vollenden. Er wollte aber nicht. So wie auch Alban Berg, der starb, ohne die im Particell komplett vorliegende „Lulu“ fertig zu instrumentieren (und wohlmöglich auch noch ein wenig zu kürzen). Doch anders als bei Schönbergs biblischem Oratorium, wo der Status als Unvollendetes inzwischen durch die Bühnenrealität sakrosankt geworden scheint, bleibt „Lulu“ ein Work in Progress – aktuell war das besonders eklatant in der letzten Vorstellung der Hamburger Premieren-Serie der neuen Marthaler/Nagano-Produktion zu studieren.
1937 wurde die Wedekind-Vertonung als zweiaktiges Fragment uraufgeführt, später behalf man sich mit Pantomimen, oft unterlegt mit den einzig vollendeten Teilen der „Lulu“-Suite, die vorher konzertant uraufgeführt worden war, um das blutige Londoner Ende der Protagonistin unter dem Messer Jack the Rippers zu erzählen. Als dann 1979 die nach dem Tod von Bergs Witwe von der Universal Edition in Auftrag gegebene Orchestrierung Friedrich Cerhas an der Pariser Oper erstmals gespielt wurde, schien die Sache klar: Die Theater, die es sich leisten konnten, spielten dreiaktig, mit zwei Pausen und das Stück so sehr schwerfällig machend; die anderen beschränkten sich auf zwei – und szenische Notlösungen.
Bis dann doch die Universal Edition auch andere Möglichkeiten zuließ. 2009 inszenierte Calixto Bieito in Basel den dritten Cerha-Akt ohne das redundante Paris-Bild und mit nur einer Pause. 2010 kam in Kopenhagen eine Stefan-Herheim-Produktion heraus, die in Oslo und Dresden nachgespielt wurde, und für die erstmals der Dirigent Eberhard Kloke eine weitere Neuorchestrierung erarbeitet hatte. 2012 ließ Andrea Breth an der Berliner Staatsoper den Prolog mit dem Tierbändiger weg, die ersten Töne waren Lulus Todesschrei. Im dritten Akt fehlt wieder das Paris-Bild, die Londoner Mord-Szene war von David Robert Coleman kammermusikalisch jazzig neuinstrumentiert worden.
In Hamburg hat nun Christoph Marthaler mit Kent Nagano eine Art Heiligsprechung der „Lulu“ als nach Don Juan und Faust (vorläufig) letztem Mythos der Neuzeit erarbeitet. Wobei er in gewohnte Antihaltung die scheinbar naive Kindfrau, der die Männer verfallen, weil sie sie reihenweise unter wechselnden Namen zum Objekt ihrer erotischen Sehnsüchte formen und (zumindest geistig) vergewaltigen, zu einer Art solipsistischen Perfomerin veredelt und gleichzeitig entschärft. Anna Viebrock betont ihn ihrem erwartbar abgeschrabbelten Einheitsraum aus gammeligem Rundfunkaufnahmestudio und kleiner Theaterbühne die Zirkuselemente des Stückes, wenn sie vor allem Lulu und Alwa immer wieder auf Tierpodesten ausstellt.
Lulu, das ist, wie 2012 in Brüssel, Barbara Hannigan. Tänzelte die kanadische Ausnahmesopranistin dort als Ballerina auf Spitzenschuhen durch das Stück, so ist sie jetzt eher eine fast unbeteiligte Gymnastin, die lustige Akrobatikkunststücke vorführt, im dritten Teil nervös dribbelt und überhaupt seltsam unbeteiligt dem sie in den Mittelpunkt stellendenden Geschehen zuschaut. Die völlig asexuelle Figur hat keine Geschichte und keinen Zweck, sie ist ein neutraler Katalysator im Stretchsuit mit Totenkopf drauf, oder in ganz unsexy Hängekleidchen. So wie Marthaler anfangs die meisten Protagonisten vom hier sichtbaren Menageriearbeiter August hereintragen lässt. Die Männer werden allesamt lächerlich gemacht, weil sie meist nur mit langen, ausgeleierten Feinrippunterhose bekleidet sind: alles nur Versatzstücke. Eine Installation und vierstündige, meist starre Kunstübung ist das. Sie rollt langsam ab, lähmt und fasziniert gleichzeitig.
Während Kent Nagano sich auf einen eher neutralen, die modernistischen Klangelemente betonenden, nicht immer exakten und viele Kontrastfarben verschleifenden Orchestersound beschränkt, erzeugt Marthaler durch seine subtile Kunst der Personenführung trotzdem packenden Momente. Vor allem, weil er mit der ätherisch gläsernen, trotzdem präsenten Hannigan eine packende Titelfigur hat, die sein Konzept prismatisch bündelt und der zumindest einige gleichwertig zur Seite stehen: Jochen Schmeckenbecher als eleganter Machtmensch Dr. Schön und sachlicher Jack the Ripper; Matthias Klink als punkig tenorstarker, ungemein legato-schön singenden Alwa; die strenge Anne Sofie von Otter als hochragender Lesbenblaustrupf Geschwitz im schwarzen Herrenanzug und mit ebensolcher Perücke; der markante Sergei Leiferkus als Schigolch.
Theatralisch entstehen so Beziehungen und Geflechte, nicht aber narrativ. Weil diese Lulu anfangs nur passiv im mit dem Rücken zum Publikum daliegt, so wie die ganze zweite Hälfte des zweiten Aktes auch ihre vier Doubles. Die verturnen samt stummem August das Zwischenspiel, das Berg für den Film über Lulus Verhaftung und Gefängnisaufenthalt vorgesehen hatte, so wie sich Marthaler/Nagano immer mehr über Bergs sorgfältig symmetrische Strukturen hinwegsetzen. Die zweite Pause erfolgt erst nach der ersten Hälfte des nur im Particell für zwei Klaviere sowie Violine und später ein paar Bläser quasi nackt gespielten dritten Aktes. Die Massenszene um die geplatzten Jungfrauenaktien ist gestrichen.
Der neue dritte Teil beginnt in Hamburg mit London, spult sich seltsam matt und passiv ab, es wirkt wie eine erste Probe samt unbeteiligtem Sterben. Nach den letzten Worten der Geschwitz erscheint dann die feinsinnige Geigerin Veronika Eberle erneut und spielt einmal von rechts nach links die Rampe entlangwandelnd Bergs Violinkonzert, während hinten die vier Lulus samt wiedererstandenem Original als Girls-Reihe synchron tänzeln. Dieses, „Dem Andenken eines Engels“ gewidmete Werk komponierte Berg nach dem vollendeten zweiten „Lulu“-Akt als Requiem für die an Tuberkulose verstorbene Manon, Tochter von Alma Mahler und Walter Gropius. Und jetzt soll es quasi als Apotheose gelten für eine unter mehreren Namen nicht Greifbare, für eine Frau, die zu ihrem eigenen, vervielfältigten Denkmal erhört wird, wenn sich schließlich auch Eberle in die zum Sextett geschlossene Lulu-Chorus-Line einreiht.
Mit dieser instrumentalen Sättigungsbeilage, die graue Theorie bleibt, auch musikalisch aus einer anderen Welt zu kommen scheint als die schrill-schillernde Klangkolportage zuvor, verliert der Abend allerdings den letzten Rest Vitalität. Zu sehen ist also lediglich eine Art bebilderte Philologenkommentar, der einmal mehr die problematische Werkgestalt thematisiert. Aber keine inhaltliche Weiterdenke. Schade. Da war man an der Hamburgischen Staatsoper 2003 unter Metzmacher/Konwitschny mit der mindestens gleichermaßen begeisternden Marlis Petersen in der Titelrolle schon einmal weiter.
Der Beitrag Hamburgs „Lulu“: Unvollendete mit Konzertbeilage erschien zuerst auf Brugs Klassiker.