Die Bösen haben den meisten Spaß. Und sind in der Regel auch unterhaltsamer als die langweiligen Gutmenschen. Altes Theatergesetz. Gerade wieder festzustellen in den Nachrichten, wo man ja nicht so genau weiß, ob man einem Komiker mit seltsamer Haarfarbe zusieht oder (leider) dem US-Präsidenten. Und auch in der Oper kann sich eine Elektra noch so sehr verausgaben, nicht selten punktet die Klytämnestra als von den Erinnerungen an einen Gattenmord geplagte Königin-Megäre mit ihrer Viertelstunde Geisterbahn-Horror weit stärker als ihre ein Mörderbeil schwingende Tochter. Eine noch altertümlichere Klytämnestra ist auch Semiramis, die sagenhaft babylonische Anti-Heldin in Gioachino Rossinis gleichnamiger Oper. Und die so packende wie berührende Joyce DiDonato wusste und beglaubigte das in jeder Notensekunde dieses ebenfalls sagenhaften Rollendebüts an der Bayerischen Staatsoper.
Als Mezzosopran machte sich die Amerikanerin, die Starglamour mit unbedingter Arbeitsbereitschaft vereint, eine weitere der für Rossinis Ehefrau Isabella Colbran und eine wohl ähnliche Stimme geschriebenen Rollen vollkommen zu eigen. Und entreißt sie so den oft neutral zwitschernden Sopranen, die gern noch ein paar Koloraturhöhenflüge mehr einlegen. Zudem bringt sie als versierte Singschauspielerin das heikle Kunststück fertig, in jeder Note alle technischen Schwierigkeiten vergessen zu lassen und diese gleichzeitig mit einem Höchstmaß an gestalterischer Bedeutung aufzuladen.
Maskenhaft bleich geschminkt, mit schwarzer Perücke und in ihre meist dunklen Kostüme wie in einem Kokon verpuppt, so stand sie statuenhaft da: eine Megäre, eine bitch, die mit dem ehemals geliebten Assur den Gatten um die Ecke gebracht hat und jetzt dabei ist, für ihren Machterhalt, den – was sie nicht weiß – eigenen Sohn zu heiraten. Der sie schließlich ermorden wird, um als neuer Regent die blutbefleckte Dynastie zu reinigen. Mögen die Götter ihm gnädig sein.
„Das schöne, bezaubernde Licht / der Hoffnung und des Glücks /erstrahle mir endlich“, so singt Semiramide in ihre einzigen Arie „Bel raggio lusingher“, einer wahnwitzigen Zirkusnummer des Belcanto. Bei der wissenden Sängerin Joyce DiDonato ist das freilich kein glänzendes Schaustück virtuos sich spreizender Vokalkunstturnerei, sondern eine zutiefst bestürzende Innenschau in eine von Schuldkomplexen geplagte Seele, die sich, auf einem Sofa windend, nur mühsam die Fassung bewahrt. Ihre eigentlich klare Stimme färbt sich düster, wirkt aschfahl, Koloraturen kommen da als Seufzer nicht als Verzierungen. Diese Sängerin holt aus Rossinis angeblich so selenlosem Notentext ein Maximum an emotionaler Nuancierung heraus.
Und was tat ihr Regisseur? Der lässt in einem primitiv gezeichneten Video Schmetterlinge flattern – und vermasselt so seiner Protagonistin beinahe diese so bestürzenden wie faszinierende Innenschau, die sie verhalten spielt, fast nur mit stimmdramatischen Mitteln gestaltet. David Alden könnte freilich auch anders. Aber es war wohl keine gute Idee, ihn nach 14 Münchner Inszenierungen elf Jahre später zurückzuholen, um das zu zeigen, was er hier meist in Händel-Opern bereits erzählt hat: Orientalische Diktatoren haben keinen Geschmack. Und Rossini hat vor allem (hier) keinen Humor. Den Alden mit albernen Balletteinlagen, starren Chorblöcken in Moslemschick und einer lebendig werdenden Machthaberstatue als Mischung aus Putin und Alfons Goppel vergeblich zu kitzeln versuchte.
Zum Glück aber hatte die anbetungswürdige Joyce DiDonto zwei musikalische Mitstreiter, die den langen Abend unbedingt hörenswert machten. Der Bassbariton Alex Esposito, klein, aber höchst beweglich, vokal auch eher schmächtig, aber von extremer Dehnbarkeit und Konzentration, ließ den Bösewicht Assur, die wohl technisch schwerste Rolle des Stimmfachs, zu einer Art Mini-Macbeth als ordensbehängtes HB-Männchen heranreifen. Die Liebes-Hass-Szene mit seiner Ex Semiramis in einem trump-barocken Goldbett wurde zum dramatischen Höhepunkt.
Und im folgewilligen Orchester erwieß sich Michele Mariotti auch in diesem formstrengen Duett als vollendeter Rossini-Gestalter, der die Gesetze dieser klassizistischen Seria verstanden hat. Wie schon in seinem ersten ernsten Erfolg, „Tancredi“, zehn Jahre vorher auch in Venedig, scheint der bereits in romantischere Gefilde vorgedrungene Komponist hier im Jhr 1823 Noten wie in Carrara-Marmor zu meißeln. Hehr, klar, von einer graziösen Poesie, die das Schreckliche veredelt, es nicht abbildet. Ein Stilexperiment, das nicht nur für Italien lange vorbildhaft werden sollte, und das Mariotti hier im subtilen Instrumentalfarbenspiel von einer großflächigen Palette nachzeichnete, mit feinsten Temporückungen lebendig auflud. Gegen diese gloriosen Drei verblasste alles andere: die uninspirierte Produktion; auch Daniela Barcellonas überreifer, brav abgesungener Arsace; der um seine erste Arie gebrachte, von der Regie alleingelassene Lawrence Brownlee als Karikatur eines überflüssigen Tenorprinzen; Simone Alberghini als Schicksalhaftes brummelnder Priester.
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