Schön, wieder mal in Aldeburgh zu sein! Die Kiesel sehen aus wie immer, die eiscremefarbenen Häuser in herrlicher Suffolk-Sonne (!) auch. Neben dem wartenden Ticket-Umschlag steht eine Schüssel Erdbeeren in der Journalisten-WG im Strandhaus. Man feiert 70 Jahre Festival und 50 Jahre Snape Maltings, die berühmte Mälzerei, die 1967 von Queen Elizabeth als einer der besten englischen Konzertsäle eröffnet wurde – und ein Jahr später schon wieder abbrannte. Und man begeht dieses Datum natürlich mit der britischsten aller Opern (auch wenn sie im Athener Wald spielt), dem „Midsummer Night’s Dream“. Der wurde hier vor 57 Jahren in der Jubilee Hall uraufgeführt und auch in der neuen Halle zur Einweihung angesetzt, sie ist inzwischen aber auch ein Favorit in Glyndebourne, wo Peter Halls düstere Produktion von 1981 erst im letzten Sommer ihr x-tes Revival erlebt hat.
Und jetzt lacht man in dem mit einem Graben und einem Prozenium versehenen Snape ebenfalls über die kindlichen Elfen, obwohl die mit ihren Albino-Perücken und Sonnenbrillen aussehen wie die kindlichen Mörder aus dem Horrorfilm „Das Dorf der Verdammten“. Der ganze Konzertsaal ist wie eine Familie, alle scheinen aus dem demselben Londoner Mittelklasse-Vorort zu kommen und gerade ein paar Strand- und Konzerttage in East Anglia einzuschieben. Man hat hier kaum Handyempfang, die Enten quaken im Ried, man umkreiselt genügsam stoisch Henry Moores Bronzestatuen-Trio vor der Terrasse des Concert Café, das längst nicht mehr Oyster Bar heißt, weil die eben hier keiner wollte. Stattdessen steht man vor der Oper in der langen Büffetschlange um Chicken/Ham Pie oder Beef Marsala an. Und jeder hat irgendeine Britten/Pears-Anekdote bei der Hand, weil man ja schon so lange hierherkommt.
So wie es natürlich auch für viele Stammgäste obligatorisch ist, einige der Master Classes zu besuchen, die dieses Jahr im Peter Pears Recital Room zum Thema „Singing Britten“ abgehalten werden. Mezzolegende Ann Murray im kurzen Röckchen (mit 72!) und Liedpianist Malcom Martineau sind als bewährtes Lehrtandem bereits mittags so unterhaltsam für das Publikum wie unnachgiebig in der Vokalsache. Ein finnisch-portugiesischer Mezzo macht genau diese Lampenfiebermischung für ihren Klangkampf mit dem göttlichen Wort „Aphrodite“ in der späten Kantate „Phaedra“ verantwortlich. Ein toller Tenor mit sämigem Honig in der Stimme fällt bei dem pathetischen „Before Life and after“ aus den „Winter Words“, immer wieder ziemlich tuntig aus der Rolle und nuckelt dauernd nervös an seiner Wasserflasche. Zwei English-Sopran-Roses klingen eher flach, die eine wird deshalb bei „Fileuse“ aus dem „Folk Songs“ gleichzeitig mit pantomimischem Spiel am imaginären Spinnrad abgelenkt. Und bei jedem Song fällt wieder auf, was für ein wunderbarer Liedkomponist Benjamin Britten war.
Wie überhaupt die rein britische, also Brexit-Besetzung im „Midsummer Night’s Dream“ das pure Vergnügen ist, so natürlich, so nuanciert fein in der Sprache zu Hause, dass auch ohne Übertitelung fast jedes Wort zu verstehen ist. Iestyn Davies erweist sich mit silbrigen Höhen neuerlich als Englands Counterkönig, Sophie Bevan ist seine eher hausfräulich-handfeste Titania, die nur einmal kurz mit dem famos vokalfülligen Bottom Matthew Rose in Unterhosen abirrt. Die vier auch klanglich gut unterscheidbaren Liebenden Clare Presland und Nick Prichard, Eleanor Dennis und George Humphreys sind zudem durch rote Schottenkaros und einfarbige Anzüge voneinander abgesetzt.
Jack Lansbury als jugendlich-mutwilliger, kaum anrogyner Puck muss rad- und saltischlagend für seine Gage viel über Karren und Schaukel turnen. Distinguierte Bürgerlichkeit bei vollem Laientheatereinsatz verströmen die famosen Rest-Handwerker, darunter Andrew Shore (Quince) und Lawrence Wiliford als Flute/Tisbe, einst Pears’ Drag-Rolle. Der und Ben stehen nun als Bronzebüsten dioskurengleich flankierend am Garteneingang zum Konzertsaal. Immerhin hatte ja damals, bei der zweimaligen Snape-Einweihung die Königin dieses Männerpaar auch offiziell anerkannt, obwohl deren Gemeinschaft noch von Gesetzen verboten war.
Mit solchen abgründigen Schwulitäten als Varianten der Liebe im Dickicht der Gefühle freilich hält sich die atmosphärisch brave Inszenierung von Netia Jones nicht auf. Die lässt virtuos Handlung abschnurren, trotz den beengten Bühnenverhältnissen fast ohne Technik mit einer riesigen Projektionswand, welche das in den Dreißigerjahren angesiedelte Geschehen meist einfach bildlich verdoppelt. Die Elfen erscheinen als Schatten vor dem Vollmond, Harry-Potter-Internatszöglingen nicht unähnlich. Was passt, denn Joanne K. Rowling hat ja bekanntlich den Zaubertränkemeister Severus Snape nach der Ortschaft Snape benannt.
Wird von „Snake“, „Monkey“, „Flower“ oder „Owl“ gesungen, erscheinen solche, bei den Liebenden wiegt sich der Blätterwald in schönstem Grün, bei den Feen ist er Negativschwarz, bei den Handwerkern grau und mit Maschinenteilen überblendet. Am Königshof von Theseus (Clive Bayley) und Hippolyta (Leah-Marian Jones) leuchtet ebenfalls ein festlicher Mond. Jones, die auch ihre eigene Ausstatterin ist und sonst als wagemutiger gilt, bebildert vorwiegend; das freilich macht sie fein. So wie auch Ryan Wigglesworth das Festivalorchester mit raschen Tempi zu zarter Durchsicht animiert, wohlig rumoren die tiefen Glissandi als Waldweben, ätherisch trillert die Celesta und gut erzogen klingen die royalen Fernfestfanfaren. Das Aldeburgh Festival feiert sich so sympathisch selbst.
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