Die Russen müssen jetzt sehr stark sein. Denn in europäischen Opernhäusern werden sie gegenwärtig nicht sehr gut behandelt. Eben noch landete auf der Stuttgarter Staatstheaterbühne Tschaikowskys eigentlich im St. Petersburger Aristokratenmilieu des frühen 19. Jahrhunderts spielende „Pique Dame“im proletarischen Mob dortiger Elendshinterhöfe. Und jetzt gab es in Gent an der Opera Vlaanderen Nikolai Rimsky-Korskows im Westen nur selten zu sehenden sieben lyrischen Szenen über einen zwischen Künstlertum und Kommerzaufsteigen schwankenden Lautenspieler namens „Sadko“, wo das postsozialistische Präkariat am Ende wieder nur im Billigkonsum schwelgt. Ja, so sind sie halt, von Brjansk bis Wladiwostok, oder zumindest sehen wohlstandgepolsterter Schweizer und amerikanische Regisseure so die östlichen Europäer aus dem Denkkomfort ihrer Altbauwohnungen.
Dabei kann Rimsky-Korsakow noch posthum dankbar sein. Denn zumindest einige seiner 15 Musiktheaterwerke wurden in der zu Ende gehenden Spielzeit an (west)europäischen Theatern auffällig häufig neu entdeckt. Und nach dem „Goldenen Hahn“ in Brüssel und Madrid sowie „Schneemädchen“ in Leeds und Paris war nun Rimskys siebte Oper „Sadko“ von 1896 endlich wieder mal auf dem Prüfstand. Auch wenn es sich Daniel Kramer, Künstlerischer Direktor der schlingernden English National Opera, sehr einfach gemacht hat und überaus plan vorgeht. Seine von Annette Murschetz simpel gebaute und von Constance Hoffman mit nicht sonderlich originellen Kostümen versehene Bühne, sieht unten eine leicht ansteigende Erdfläche vor (obwohl zwei Bilder am und im Ilmensee bei Nowgorod spielen) und eine darüber schwebende Projektionswand. Diese zeigt mit Videos von Darrel Maloney zunächst die Erde und den Mond als intakte Balance der Naturkräfte, so wie sie der Meerzar (nur noch heißere Bassluft: Anatoli Kotscherga) und seine Tochter Wolchowa verkörpern. Doch immer mehr rasen darüber Bilder unserer modernen Ära, Kriege, Explosionen, Tom & Jerry-Verfolgungsjagden, Tele-Shopping samt Bestellnummern. Die Welt mutiert zur Discokugel, und goldene Brüste locken als ultimatives Erlebnis.
Auch Sadko will Anerkennung als Businessman, der das Geld/Gold riecht, aber trotzdem seine künstlerische Sensibilität wahrt. Beides geht nicht, so wie er sich eben auch nicht den Wasserwesen als Preis für seinen neuen Geschäftssinn opfern und trotzdem der treue, aber nachlässige Gatte seiner hausmuttchenhaften Ljubawa bleiben kann. Am Ende ist er einer jener, die rettungslos kaufen und stumpfsinnig ihrem beschränkten Nationalismus frönen, die Ehe scheint zumindest nach außen hin gekittet. So weit, so politisch schlecht.
Auf der Bühne ist das ein ewiges Hin und Her zwischen mal weißen, mal schwarzen Schleierschnabelwesen der Ilmensee-Besatzung und erst trist, dann kreischbunt aufgebretzeltem Volk. Das zarte, mal märchenhafte, mal schmunzelnd satirische Netz von Rimskys Anspielungen auf traditionelle, ein wenig schwerfällige Folkloreballaden, in die Chorszenen verwobenen Tänze und moralische Sentenzen, die den mittelalterlichen Stoff mit Jetztzeitkritik würzen, ist von Anfang an zerrissen. So bleibt die Szene mit ihren Sperrmüllsofas, dem üblichen Partyklamauk und vertrockneter Ehespießigkeit wie sie ein mühsam herumgeschobener gedeckter Esstisch verkörpert wenig abwechslungsreich. Ein Gefühl von Reigen und Stationendrama mag sich nicht einstellen, wenn fast alles gleich aussieht.
Es bleibt dem von Dmitri Jurowski so sinnig wie sinnlich dirigierten Symfonisch Orkest Opera Vlaanderen vorbehalten, die wahren Schönheiten dieser Partitur aufzufächern, ihren ruhig mäandernden Fluss, ihren dunklen Klang, wie er immer wieder in den fast leitmotivisch behandelnden Balladen aufscheint, ihre fantasievoll-abwechslungsreiche Orchestrierung, besonders in den hier kaum zu ihrem Recht kommenden Tanzszenen. Da schwingen sich Holzbläsermelodien empor, die vielfach ertönenden Chöre haben etwas Sehnsuchtsvolles, aber auch Prunkstarrendes. Hedonismus und Nachdenklichkeit wechseln sich ab. Das gipfelt im auch symmetrisch zentralen Festbild, wenn gleich drei Kaufleute die Nowgoroder mit vokalen Spezereien verführen wollen (während natürlich die Videos wieder nur Ausverkauf, Elend und Zerstörung als Kehrseitige der schmucken Touristen- und Handelswirtschafts-Medaille zeigen).
Tijl Faveyts ist der bassprofunde Waräger-Kaufmann aus dem Norden, Adam Smith singt mit betörendem Schmelz den Tenorhit des Inders, Pavel Yankovski leiht seinen schlanken Bariton den Schönheiten Venedigs. Solche Episodenfiguren sind typisch für die folkloristische russischen Opern, auch oft ein weiterer, gern seherhaft agierender Barde, für gewöhnlich mit einem Mezzo oder Alt besetzt. Hier singt Raehann Bryce-Davis gustiös den Nezjata als Wiedergängerin der schwarzen Bluesbombe Bessie Smith. Was konsequent ist: Denn auch der am Anfang lyrisch leicht seine fiesen Höhenklippen nehmende, am Ende etwas matte Sadko von Zurab Zurabishvili ist ein Crooner im Rüschenhemd, der sein Mikrophon immer dabei hat.
Am Ende legt er es nicht in das nasse Grab auf dem Meergrund, das ihm Wolchowa (die blässlich kolorierende Betsy Horne) geschaufelt hat, sondern in einen Erdhaufen, der sich grünlich leuchtend teilt, weil die von ihm Niedergestreckte nun zum Novgorod mit dem Meer verbindenden Fluss Wolchow mutiert ist. Die stoische Ehefrau der gar nicht stoisch mit Verve ihre Ljubascha lyrisch orgelnden Victoria Yarovaya schüttet sich derweil ebenfalls mit schwarzer Erde zu.
So ist „Sadko“ in Gent vor allem musikalisch schmuck bewältig worden. Szenisch bleibt noch Raum für einen weiteren Versuch von hoffentlich Dmitri Tcherniakov, der wie kein anderer Regisseur gegenwärtige, psychologisch spannenden Beziehungen mit einer liebevollen Hommage an die Poesie und Farbigkeit des alten Russlands zu verbinden weiß. Und so die immer noch zu entdeckenden Klangwelten Nikolai Rimsky-Korsakows allerschönst zum Glühen bringen kann.
am 2. Juli auf theoperaplatform.eu zu sehen und dann abrufbar.
Der Beitrag „Sadko“ in Gent: Die Erde ist eine goldene Discokugel erschien zuerst auf Brugs Klassiker.