Der zur feinen Slapstick-Nummer ausgebaute klemmende Reisverschluss des Knappen Scherasmin – daran erinnert einen die reizvolle, aber problematische Partitur zu Carl Maria von Webers Feenoper „Oberon“. Der Zipper, der ruckelt und zuckelt, mag gar nicht aufgehen, obwohl doch Beachtliches dahinter zu vermuten ist. Dann fällt plötzlich an unpassender Stelle die Hose von selbst. Für den Spaß ist aber keine Zeit, weil schon wieder einer singen muss. Oder auch nicht. So geht es ebenfalls in dieser wüsten Melange nach Christoph Martin Wieland zu, die sich der sterbenskranke Komponist 1826 für das Londoner Covent Garden Opera House abpresste. Den Engländern mochte der dem Masque-Modell à la Purcell folgende Mix aus ein paar Shakespeare-Resten, Feenmärchen und orientalischen Liebes- wie Rettungsfantasie samt Kreuzrittern, durchsetzt von Tänzen, Arietten, Chören und ein paar großformatigen Solonummern für ziemlich heldische Stimmen irgendwie noch gemundet haben. Schon Weber fremdelte damit, und der Rest der Musikwelt hat ihn trotz diverser Bearbeiter (Gustav Mahler, Martin Mosebach) mit Missachtung gestraft. Aber ausgerechnet Nikolaus Habjan, Puppenbauer- und Spieler, Regisseur, Autor, Schauspieler, Sänger und Kunstpfeifer, 29 Jahre jung, in Österreich ein Bühnenstar, in Deutschland dabei, einer zu werden, hat sich jetzt mit diesem für heutige Geschmäcker unrettbaren Hybrid als zweite Münchner Festspielpremiere auf die Prinzregententheaterbühne getraut.
Und hätte er einen besseren, präziseren, vor allem streichwütigeren Dramaturgen gehabt, der mit dem Theater an der Wien koproduzierte Abend wäre richtig gut geworden. Doch auch so langte es zu einem bejubelten Achtungserfolg. Habjan wird zudem im nächsten Januar in München gleich nachlegen; dann puppenlos und puristisch am Residenztheater mit dem „Streit“ von Marivaux. Jetzt aber ließ er seine bewährt grotesken Klappmaulwesen tanzen und wuseln, sparsam eingesetzt, aber an den richtigen Stellen in der abstrusen Geschichte, in deren Verlauf (unter anderem) die Feenregenten ein Menschenpaar auf seine Treue prüfen wollen. Das wird hier gleich und konsequent in ein Laboratorium aus den Fifties verlegt. Jacob Brossmann hat dafür eine altertümlich-elegante Schaltzentrale mit blinkenden Anzeigern in Taubengrau gebaut, deren eifrig uniformes Personal Denise Heschl mit wattierten Arbeitskitteln ausstaffierte. Als Chefs fungieren Oberon und Titania, die sonst in der Geschichte zu Statisten degradiert sind. Alyana Abramova gibt mit heftigem Akzent die Domina und singt guttural die Nummern des Puck. Der lyrisch-bissfeste Julian Prégardien darf immerhin noch sehr professionell eine XXXL-Stellvertreter-Puppe mit Glimmaugen und Leuchthänden führen.
„Leicht wie Feentritt nur weht, / durch den Saal Ihr Elfen geht!“, so säuselt es da in vergilbtem Deutsch. Das kann man nicht mehr ernst nehmen, und so wird schnell aus den orientalischen Liebesumwegen ein emotionales Irrenhaus. Ritter Hüon und sein Knappe Scherasmin mussten dafür direkt aus dem Zuschauerraum als nicht eben willige Probanden rekrutiert werden, auch ein in bunte Tüllwogen gehülltes Damenpärchen findet sich. Da wallen im flexiblen Einheitsraum die Gardinen und zeigen sich Palastsilhouetten als Schattenspiel. Und die Kommandozentrale mutiert zum kissenbewehrten Lotterdivan.
Man landet schnell beim krumsäbelwedelnden Kalifen Harun al Raschid, der noch schneller politisch unkorrekt puppenmausetod gestochen wird. Hüons Horn (das aus dem berühmten Ouvertürenauftakt) lässt die Feinde versteinern, ein altes Pärchen gibt seinen Kommentarsenf dazu. Soldaten scheppern als seltsame Halbwesen, eine blauglitzernde Meerjungfrau (Anna El-Khashem) gurrt zwischen Pappwellen und einem Wasserballett, das Esther Williams alle Ehre einlegen würde.
Man darf über die kunterbunten Bilder in lockerere Revuefolge nicht viel nachdenken, man muss sie genießen. Nikolaus Habjan will nur spielen und das tut er ausführlich. Manchmal verliert er dabei sein Ziel aus den Augen, aber er findet lustvoll über das Kuckucksnest fliegend immer wieder seinen Pfad der Regieerkenntnis. Bis sich am Ende, selbst die puppenführenden wissenschaftlichen Assistenten, die alle Puck heißen, melden inzwischen reuevoll Bedenken an dem Menschenversuch an, alles irgendwie fügt.
Das robuste niedere Paar Scherasmin (mit quellfrischem Tenor: Johannes Kammler) und Fatime (dunkel sopranschattiert: Rachel Wilson) ruckelt sich wieder gemeinsam in der Wirklichkeit zurück. Hüon, den Brenden Gunnell als Hindenburg-Wiedergänger mit stählerner Vokaltrompete elegant strahlen lässt und Annette Dasch, die als Rezia zwar dem Ungeheuer namens Ozean nicht immer hochdramatisch trotzt, aber als raumfüllendes Sexkitten eine Romantikschau ist, bleiben trotz Elektroschocktherapie in ihren durch Spritzen und Computerbogen verursachten Wahnwelten verfangen.
Dorthin freilich haben sie Ivor Bolton und das liebevoll aufspielende Bayerische Staatsorchester allerschönst instrumental begleitet. Und haben bis in das letzte Orchestrierungsdetail vorgeführt, wie nah hier Weber stets dem Genialen und dem Banalen ist. Harmonische Geistesblitze und feenzarte Melodien mischen sich mit leiernden Wiederholungen und biedermeierlichem Liedkranz-Kleinklein. Dann doch lieber Drogenrausch und Klamauk!
Der Beitrag Webers „Oberon“ in München: lusttötende Liebe im Labor erschien zuerst auf Brugs Klassiker.