Das Handy zeigt als Ortserkennung noch den alten deutschen Namen an: Pernau. Dabei heißt der einst vom Deutschen Orden gegründete Badeort, an dem bereits 1838 die erste, legendäre Schlammpackung verteilt wurde, lange schon Pärnu. Estnische Ostseeprovinz, aber im russischen Riesenreich der anektierenden UdSSR einst das westlichste Ferienseeressort, angenehm temperiert für alle die, welche nicht in Sotschi auf der Krim schwitzen wollten. Wie etwa Geigen-Poet David Oistrach und Komponistenkollege Dmitri Schostakowitsch. Es ist dort immer noch eine angenehme Mischung aus drei Kilometer herrlichem Dünensandstrand, Parks und Alleen von Kiefern, Lärchen, Birken, Linden und Eichen, Barockstraßen, orthodoxen Kirchen, fein verzierten Holzdatschen, Bauhaus-Moderne und sozialistischem Plattenbau. Geruhsam, kaum gentrifiziert, aber mit ein paar touristischen Annehmlichkeiten wie neuen Spa-Hotels. Und Feriensitz der Musikerdynastie der Järvis. Seit – immer schon (im amerikanischen Exil von 1980-90 freilich nur im Herzen), schließlich wurde die Großmutter hier 1901 geboren; ihr Haus hat man nie aufgegeben. Big Daddy Neeme hat hier das irgendwann verblichene Oistrach-Festival in der zaristischen Elisabethkirche, die eine der besten Orgeln des Landes hütet, übernommen und eine gern besuchte Dirigentenmasterclass hinzugefügt. Daraus wurde das Jervi Music Festival, seit 2010 heißt es nun Pärnu Music Festival, die geldgebende Stadt wollte auch vorkommen. Was Neeme gelassen geschehen ließ. Und nicht nur der wieder in Tallinn lebende Sohn Kristjan kommt hier zum Urlaubmachen her (bevor sein eigenes Baltic Sea Philharmonic auf Sommertour geht), der in London residierende Sohn Paavo hat neben der Järvi Akademie vor sechs Jahren ein Festival Orchestra aufgebaut, in dem auch die sonst in Genf wohnende Schwester Maarika Flöte spielt. Eine Ortsbegehung.
Schon der Flughafen in Tallinn hat ein meerblaues Dach und sandfarbene Böden, strahlt skandinavisch-baltische Gelassenheit aus. Auf dem Titel eines ausliegenden Magazins bleckt einem Neeme als milde Mischung aus Clown und Bulldogge entgegen. Der Fahrer ist mit kurzen Hosen, Streifen-Shirt und Sonnenbrille ganz sommerfestivalig drauf, blau ist auch die Limousine, die die 123 Kilometer gen Süden an die Bucht von Riga rollt. Pärnu, eine Halbinsel am gleichnamigen Fluss, liegt genau in der Mitte zwischen beiden Landeshauptstädten. Nachdem wir durch die Gartenstadt Nömme mit ihren Funktionalismus-Villen zwischen viel Grün gefahren sind, auch die Musikhochschule liegt hier, wie der gerade graduierte Schlagzeuger/Chauffeur erzählt, geht es schnurgerade zwischen endlosen Baumreihen dahin. Eine historische Brücke neben der Straße ist das einzig Bemerkenswerte.
Als wir über eine weitere Brücke in die Altstadt von Pärnu fahren, wird zwischen sozialistischem Aufmarschplatz samt stalinistischem Theater, goldenen Zwiebeltürmchen, verblichener Grand-Hotel-Herrlichkeit und vielen, vielen Kiosken, Kneipen und Cafés, die sich in den wenigen Straßen des Zentrums ballen, schnell klar: Es ist herrlich geruhsam hier, „wunderbar vergessen“, wird Paavo Järvi später sagen. Das Hotel ist modern, mit großem Wellness-Bereich (neun Saunen, von Salz bis Rauch – eine estnische Spezialität –, heiß bis cosy!) und skandinavischer Aufgeräumtheit. Andres Siitas, früher Intendant des Estnischen Nationalorchesters, jetzt zuständig für ein ganz anderes, wagemutiges Unternehmen, die erste Tournee des Estonian Festival Orchestra, empfängt uns mit estnischem Essen: Rote-Beete-Salat und Zander. Und das „Edelweiß“, wo die Bedienung pinkfarbene (hier gern gesehen) Dirndl trägt und die noch bunteren Cocktails Edelweissi Romantika (mit Kirsiliköör) oder Woo Woo heißen, da weiß ich schnell: Ich habe mich schon in diese zärtliche und zugleich harte, immer auf der ersten Silbe betone Sprache verliebt. Außerdem ist das als Spezialität gereichte Heringseis (als Vorspeise) echt der Kracher. Auch mögen sie schmierige Cremetorten hier. Sehr sympathisch.
Es geht vorbei an sich vor Begonientürmen fotografierenden Touristen, irischen, armenischen, italienischen Kneipen, an einem fein vergammelten Antiquariat, dass so spät-hippie-easy auch in Key West stehen könnte, in Richtung Flussufer. Da ist es weniger schön, eine breite Straße, Mietskasernen russischer Bauart, ein monströses Einkaufscenter. Das freilich umarmt und schirmt ab die eigens für die Järvis 2002 gebaute Konzerthalle. Die hat eine Bronzestatue des hier geborenen Gustav Fabergé (Vater des berühmten Eiermachers) vor der Türe sitzen, verfügt über 900 Plätze und einen Kammermusiksaal, ist funktional-angenehm, mit einer etwas direkten Akustik – wenn 75 Musiker mit Schostakowitschs 1. Sinfonie losschmettern. Was jetzt der Fall ist.
Denn gerade hat sich das Festivalorchester zur ersten Probe zusammengefunden. Im schmalen Backstage-Bereich türmen sich Koffer und Instrumentekästen, viele kommen direkt vom Flughafen. Das ist echter Enthusiasmus für einen Esten! Paavo Järvi, weltweit als Orchestererzieher geschätzt, hat seine bunte Truppe nun zum siebten Mal versammelt. Den Nukleus bildet das Tallinn Chamber Orchestra, dazu kommen ein paar Studenten, die Elite der estnischen Musiker (erstaunlich viele bei nur 900.000 Esten plus 400.000 Russen im Land), Musiker von der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen (deren Konzertmeister Florian Donderer fungiert hier schon seit Anfang in gleicher Position als guter Orchestergeist), aus dem hr Sinfonieorchester Frankfurt, dem Orchestre de Paris und sicher bald auch von der Zürcher Tonhalle. Denn Paavo scharrt hier alle seine Lieben aus seinen diversen Klangkörpern um sich – nur Musiker vom NHK Orchestra aus Tokio und aus Cincinnati fehlen – Interkontinentalflüge sind im Festival-Budget gegenwärtig nicht drin.
Das – wieviel es ist, weiß keiner zu sagen, in jedem Fall zu wenig – dieses Jahr aufgestockt wurde. Dann das Festival bekommt erstmals einen Appendix: eine direkt anschließende Tour durchs Baltikum und im Januar durch die europäischen Klassikkernlande, Deutschland ist mit Köln und Berlin dabei. Und das alles, weil Estland 2018 ganze 100 Jahre Unabhängigkeit feiert; wovon 50 Jahre unter russischer Besatzung verbracht wurden; doch das war man hier gewöhnt – nach 300 Jahren unter Deutschen, je 200 unter Schweden und schon einmal unter Russen.
Paavo hat bereits sein Festival-Shirt an, ein gefragter,weil zu wenig vorhandener Artikel, der im Büro mit leidensverzerrter Miene eben von einem deutschen Dirigentenzögling eingefordert wird. Die Tresenkraft bleibt hart. Ja richtig, neben dem kontrollierten, schon ziemlich gut klingenden Klangchaos auf dem Podium und der üblichen Hinterbühnen-Kakophonie unbeeindruckt vor sich hin Übender ist nebenan noch die Akademie der künftigen Pultlöwen (es sind nur Männer) am Laufen. Der Ukrainer Leonid Grin trägt die Hauptvorbereitungslast, aber Patriarch Neeme ist natürlich auch dauernd da und seit einer Woche auch Paavo. Coaching von drei, durchaus sich ergänzenden Seiten, ein Pianist und das Järvi Academy Youth Symphony Orchestra (das gibt es auch noch!) spielen dazu: Was kann der Nachwuchs mehr wollen?
Das Pärnu Music Festival: eine Woche im Juli (diesmal August, wegen der Tour), zwei Konzerte des Festival Orchestra mit berühmten Solisten, Radu Lupu und Lisa Batiashvili, andere mit dem Chamber und Youth Orchestra, dazu die Akademisten und Kammermusikprogramme. An diversen Orten. Manchmal auch Gäste, diesmal das European Union Youth Orchestra unter Vasili Petrenko. Da haben die versammelten Järvis kaum Zeit für den Strand, auch wenn der Nachwuchs, etwa Paavos zarte Töchter, die aus den USA zu Besuch sind, den einfordern. Eine Familiensache mit erweiterter Besetzung. Mich zieht es jetzt, der Aufenthalt ist im dichtgedrängten Festivalkalender sowieso allzu kurz, erst mal an den Strand; bisher war der hinter Lärchen nur zu ahnen.
Wieder so eine schnurgerade Allee, dann erscheint das neoklassizistische Ur-Moorbad, hinter das geschickt ein stylishes Hotel geklebt wurde. Dafür ist am hölzernen Kursaal daneben die Zeit stehengeblieben. Das Pub, das sich darin breitmacht, könnte noch von 1990 stammen. Auch hier sitzt ein Bronzedenkmal, gewidmet ist es Raimond Valgre, dem ebenfalls hier geborenen Verfertiger populärer Tanzmelodien. Die schönsten dudeln aus einem verborgenen Lautsprecher. Und um die Ecke prangt die Holzvilla des berühmtesten estnischen Cellisten, Raymond von Bööcke. Gegenüber Dünen wie auf Sylt, fast menschenbefreit. Wo sind die 80.000 auf die die Stadt von 40.000 im Sommer anschwillt? Flach ist Meer, weit geht der Blick, friedliche Abendstimmung. Und immerhin eine sprudelnde Stunde im Spa ist möglich!
Wie ein Konzertpräludium schlängelt sich bei tiefstehender Sonne der Weg zum Saal. Dort wird heute zur Eröffnung des diesmal ihm gewidmeten Festivals Urvater Neeme gefeiert, der am 7. Juni 80 Jahre alt wurde. Erst einmal aber erhält Paavo die Ehrenbürgerwürde von Pärnu (immerhin Estlands Sommerhauptstadt während drei Monate), die er bisher aus Termingründen nicht entgegennehmen konnte. Es gibt rote Rosen (die bekommt gleich Clanmutter Liilia, klein und mit ihrer Schwarz-Weiß-Grau-Tolle fast angepunkt) und eine Minute Dankesrede. Paavo dirigiert lieber, heute aber nicht. Getragen von einer fast greifbaren Sympathiewoge, die sich in ständigen Standing Ovations entlädt, spult sich das Programm ab, das der rüstige Jubilar im blauen Smoking-Jacket ohne den schnell zur Seite gestellten Stock mit dem Tallinn Chamber Orchestra absolviert.
Erst gibt es das kleine, graziöse Andante cantabile aus Haydn/Hoffstetters Serenade op. 3 Nr. 5, nur aus dem Ellenbogen geschüttelt, fast geküsst, an der Grenze zur Unhörbarkeit. Dann folgt, mit griffiger Geste und sattem, zupackenden, auch aufgerauten Ton, Kolja Blacher mit dem Beethoven-Violinkonzert. Der Jubilar mit dem 500 CD-Einspielungen (nur Karajan und Neville Marriner haben angeblich mehr zusammenbekommen) kannte ihn bisher nicht, ist aber schwer begeistert, wie er später erzählt. Nach der Pause, eine generös-sentimentale Geste, folgt – der 85-jährige Komponist ist anwesend – das straffe, vitale, dynamisch wendige Concerto von Jaan Rääts, der lange die Tonsetzerklasse an der Hochschule leitete. Neeme Järvi hat das Werk 1961 mit dem Radioorchester uraufgeführt, ist selbst überrascht, wie frisch es der Zeit trotzte. Schließlich, es ist Sommer, Mozarts Sinfonie Nr. 29 als meeresschäumender Rausschmießer. Eben nicht: eine erste Zugabe, dann nochmals Haydn/Hoffstetter. Noch leiser!
Dann aber Party. Erst Schnittchenempfang im Foyer, überall wuseln Järvis. Paavos zwei Kinder, zwei von Maarika, Kristjan hat vier, besonders fruchtbar war Neemes älterer Bruder, der erste Musiker in der Friseursfamilie: Auch dessen Nachkommenschaft bestückt das Festival Orchestra, dieses Jahr nur mit drei Großcousin-Mitgliedern, es können aber auch bis zu elf werden. Dann aber lässt die Energie nach – zumindest bei mir. Es war eben doch ein sehr früher Flug. Auf dem Heimweg noch ein kurzer Abstecher zur Festival-Kantine Café Passion, das abends zum Hotspot werden soll. Heute nur mittelgroße Runde, alle Ankömmlingen sind noch müde. Aber die Feste hier sollen legendär sein. Wenn nicht die Putzfrau schon um sechs kommt, statt wie gewöhnlich um acht. Und der am längsten Bleibende? Für gewöhnlich natürlich Paavo Järvi. Festival ist schließlich Verpflichtung.
Der Beitrag Paavo in Pärnu: Eine Järvi-Familienfestival-Affäre I erschien zuerst auf Brugs Klassiker.