So hat sicher noch keine Sopranistin die Pause überstehen müssen: als zersägte Jungfrau! Aber nicht nur macht hier die Regisseurin Jetske Mijnssen in Peter Tschaikowskys Seelendrama „Eugen Onegin“ an der Grazer Oper nach dem Divertissement-Couplet des Monsieur Triquet einen originellen Schnitt. Die niederländische Spielmacherin hält zudem die Balance zwischen russischem Realismus und eigener Deutung. So gelingt ein Abend, an dem alles richtig ist: vor allem das zupackende, die Sänger atmend unterstützende Dirigat der neuen Musikchefin Oksana Lyniv. Die 39-jähre Ukrainerin machte zuletzt als Assistentin von Kirill Petrenko an der Bayerischen Staatsoper von sich reden. Mit vier Domestiken vergnügt sich Schwester Olga (mezzohell zwitschernd: Yuan Zhang) wenn sie von ihrer, nun ja, lebenslustigen Natur singt. Keinen stört das. So zeigt Jetske Mijnssen szenisch überdeutlich, was die Figuren fühlen, während sie in Gideon Daveys minimalistischem Holzkubus eingesperrt sind. Meist steht noch ein Abendmahlstisch im Weg, der samt Decke zum offensiv genutzten Symbol wird. Tatjana, erwachsen, aber hart geworden, weil von Onegin zurückgewiesen, hat in St. Petersburg die Fassade eine wohlversorgten Ehe gewählt; auch wenn ihr Mann ein Krüppel im Rollstuhl ist, den sie füttern muss. Umso zärtlicher wirkt die berühmte Gremin-Arie, die Alexey Birkus basschlank strömen lässt. Wir erblicken ein Labor der Liebe, kühl, aber nicht gefroren, denn noch lodern Gefühle. Vor allem die Tatjanas, ein spätes Mädchen, dessen Entwicklung Oksana Sekerina mit voluminös-dunklem Sopran bannend vor Augen und Ohren führt. Der sehr junge Onegin-Einspringer Dariusz Perczak offenbart klangvolles Baritonmaterial. Als unreif erweist sich auch die Beziehung zu seinem Freund Lenski, mit zartlasiertem Tenor gesungen von Pavel Petrov. Über den sich jetzt auftuenden beschneiten Schlitz in beiden Bühnenhalbwelten versuchen sie sich die Duellanten bis zuletzt die Hände zu geben – es geht nicht mehr. Uniformartige Kostüme belassen diese Tschaikowsky/Puschkin-Opernwelt im 19. Jahrhundert. Mijnssen, die geschickt Einzel- und Massenszenen formt, unterstreicht so die Uniformität dieser Gesellschaft, die ins Heute blickt. In Kürze mehr in Oper! Das Magazin.
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