Quantcast
Channel: Manuel Brug – Brugs Klassiker
Viewing all articles
Browse latest Browse all 826

Pierre Audi hört in Amsterdam auf: mit Henze, Landi, Stockhausen – Opera forward

$
0
0

Foto: Sarah Wong

Das jüngste Baby von Pierre Audi heißt Opera Forward Festival. Zum dritten Mal fand es jetzt in Amsterdam statt und es war so etwas wie der inoffizielle kreative Abschied des längstgedienten Opernintendanten der Welt. Nur Varely Gergiev arbeitet ähnlich lange seit 1988 am St. Petersburger Mariinsky Theater, nennt sich dort aber erst seit 1996 auch offiziell Intendant. Nach drei Jahrzehnten sagt Audi mit einem Galaabend am 30. September seinem (nach dem Almeida Theatre in London) zweiten Baby, der Dutch National Opera, die er von einem eher unbedeutenden Musiktheater in eines der ästhetisch führenden Häuser der Welt verwandelt hat, auch offiziell Lebewohl. Vorher wird Audi freilich vom Königspaar anlässlich der Wiederaufnahme seiner „Gurrelieder“-Visualisierung neuerlich ausgezeichnet. Aber nicht einmal das Holland Festival (dem er ebenfalls ein paar Jahre vorgestanden hat) eröffnet er noch, das überlässt er – wieder einmal – einem jüngeren der sich erstmals in den Niederlanden präsentiert: Tobias Kratzer, der Offenbachs „Les Contes d’Hoffmann“ stemmen wird. Doch der Audi-Arm ist trotzdem ein langer. Seine Nachfolgerin Sophie de Lint hat zwei von ihm komplett geplante Spielzeiten auszuführen, bevor sie im Herbst 2020 mit eigenen Ideen starten kann. Der 61-Jährige selbst wird das Festival in Aix-en-Provence übernehmen, für das Programm der New Yorker Park Avenue Armory zeichnet er bereits verantwortlich. In diesem Festspielopernsommer wird er das Münchner Festival mit einem neuen „Parsifal“ in Bildern von Georg Baselitz und mit Kirill Petrenko am Pult eröffnen. Und weitere Inszenierungen in Amsterdam sind natürlich auch schon angekündigt.

Opera Forward will sich in kleinen und großen Formanten, mit Wiederaufführungen und Kreationen der Zukunft des Musiktheaters widmen; ein Thema, das sich mit vielen Uraufführungen ja sowieso schon durch die Amsterdamer Audi-Jahrzehnte gezogen hat. Dieses Jahr war neben – dem Vernehmen nach eher unbedeutenden – kleineren Novitäten die Hauptattraktion die (nicht zum allerersten Mal) szenische Visualisierung von Hans Werner Henzes einst als Agitprop-Oratorium in Hamburg abgesagtes Uraufführungsskandal machendem „Floß der Medusa“ – nach dem berühmten Géricault-Bild sowie Zeitzeugenaussagen in einen Text von Ernst Schnabel gegossen. Der Henze-Experte Ingo Metzmacher dirigiert das Nederlands Philharmonisch Orchest mit schneidender Präzision, unnachgiebig rhythmischem Drive und weitem dynamischem Spannungsbogen. So holt er den letzten dramatischen Wassertropfen und den feinsten Farbspritzer aus der schillernd dichten Partitur heraus, die mit ihrem kantigen Trotz wie melancholischer Resignation keine Spur alt geworden ist.

Fotos: Monika Rittershaus

Inszeniert hat – bei diesem statischen Werk von 75 Minuten Dauer goldrichtig gewählt – der italienische Installationskünstler Romeo Castellucci, der inzwischen, auch wenn nicht immer passgenau, von allen ambitionierten Intendanten weitergereicht wird. Natürlich hält der sich nicht mit den hier verarbeiteten historischen Ereignissen um den Untergang der Militärfregatte „Medusa“ auf der Fahrt in den Senegal im Jahr 1816. Die reichen Passagiere bekamen damals die Rettungsbote, 154 Köpfe niederes Volk mussten auf einem selbstgebauten Floß ausharren, wo schnell, bis hin zum Kannibalismus, der Mensch des Menschen Wolf wurde. Nur 15 überstanden das Inferno.  Als das drei Jahre später von Théodore Géricault in eine Bildikone aus Leinwand und Öl verwandelt wurde, ging in Frankreich zu Recht der Diskurs los, was aus den Idealen der Revolution geworden war. Und ähnlich stritt man in den Post-68er-Jahren über Henzes Che Guevara gewidmetes Musikmanifest, Studentenrevolte und außerparlamentarische Opposition.

Castellucci zeigt weder das noch trikolorengefärbte Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit. Er entrückt das sowieso schon stilisierende Oratorium auch auf der szenischen Ebene. Vor der Bühne wird vom Sprecher, dem paddelbewehrten Totenflößer Charon (nicht sehr durchschlagskräftig: Dale Duesing) eine riesige Leinwand hochgezogen, Auf der sehen wir als Alter Ego des Anführers erst einen Senegalesen in Port Louis zum und in das Wasser gehen. Dann schwimmt und schwimmt er, der Mensch an sich im Ozean, exemplarisch getrieben von seinem Überlebungswillen. Die Kamera schwebt, zoomt, umkreist, wechselt die Perspektive, und wir schauen auf ihn (vom Floß?), aber wir sehen auch,  wie auf- und niederschwebend, zwischen den unendlichen Wassertälern den phantastisch singenden, von Chin-Lien Wu präparierten Chor durchscheinen: die deutsch singenden Überlebenden und. mit Totenköpfen und italienisch Dante intonierend, die Gestorbenen. So wird das „oratorio volgare et militare“ auch zum Requiem.

Und natürlich erblicken wir in dem Schwarzen in den Wogen auch die an Europas Küsten tot oder lebendig gestrandeten Flüchtlinge, Henzes „Vielzuviele“. Die Texte, das doppelte Bild, die nie platte Zeitkritik, die starke, engagierte, aber eben auch opernhafte Musik, zudem auf Vergangenheit wie Gegenwart rekrutierende eingeblendete Daten realer Menschen und Mitwirkenden, das fügt sich zu einem stimmig-faszinierenden, skulpturenhaft tönenden Ganzen. Zusammengehalten und kommentiert wird das vor allem auch von den beiden anderen, hinter der Leinwand postieren Solisten: dem wie stets selbst als Schemen viril präsenten, plastisch phrasierenden, vom Blech umschmetterten Bo Skovhus als sein Rotes Tuch reckender Mischling Jean Charles. Rechs von ihm, in der gelben Öljacke unbestechlich filmend und dokumentierend, die sirenenhaft betörend Lenneke Ruiten als „La Mort“ , die am Ende – das einzig platte Bild, in der so gültig zeitgenössischen wie abstrakten Visualisierung – durch den leeren Zuschauerraum des Opernhauses hinabsteigt. Dann geht der Neonmond auf, wie jeden Abend, der Kreislauf von Leben und Tod ist nie zu Ende.

„Schicksal und Verstehen“ hat Pierre Audi dem diesjährige Opera Forward Festival als m Motto gegeben. Auch junge Talente haben hier einen Platz, wie etwa die vielen Konservatoriumsschüler (der jüngste ist 16), die an einem weiteren, zauberischen Abend die Bühne des Het Muziektheaters am Waterlooplein bevölkern und die dort sitzenden Zuschauer neuerlich auf den leeren Raum blicken lassen. Diesmal wird hier von 27 Stunden Musik 90 Minuten lang eine Probe aus „Licht“ gewährt, Karlheinz Stockhausens siebentägigem Musiktheater-Klangkosmos-Wahnsinn. Der wird später beim Holland Festival 2019 – natürlich durch Pierre Audi – als dreitägiges Best-Off eine optische Umsetzung im eindrücklichen Kesselrund der Westergasfabriek erfahren. Und vorher gibt es schon einen lecker Appetithappen, in Form eines Ausschnitts aus der „Dienstag“-Szene „Invasion-Explosion“, wo, alles auswendig spielend, die himmlischen Michael-Trompeter in Silber gegen die teuflischen Luzifer-Posaunisten in Rot. quer durch die Zuschauerreihen antraten zum Krieg der himmlischen Prinzipien antreten. Eva zirpt in Grün dazwischen und schließlich synchronisiert Synthi-Fou in Weiß das unter demselben Topfperückenschnitt firmierende Spektakel.

Fotos: Ruth Waltz

Vorher gibt es das offiziellen Audi-Inszenierungsfinale, konzentriert am fremden Ort, dem futuristischen Muziekgebouw aan ‚t IJ hinter dem Hauptbahnhof. 90 Minuten, pausenlos und beziehungsvoll, mit einem der Auftaktstücke der römischen Operntradition, „La morte d’Orfeo“ aus dem Jahr 1619 von dem für seine geistlichen Vokalwerke gerühmten Stefano Landi. Audi knüpft so bewusst an eine seine frühen Amsterdamer Großtaten an, die kompletten Monteverdi-Trilogie mit Christophe Rousset und seinen Les Talents lyriques. Der ist jetzt auch wieder mit seinem zärtlich kosenden, weichen Klangbild aus Tänzen und Lamenti dabei.

Das Einheitsbühnenbild zeigt schicke Op-Art-Elemente, diese recht statische Oper, die dort weitermacht, wo Monteverdi aufhört, und den vom Leben und der Liebe enttäuschten Orfeo von den Mänaden zerreißen lässt, bis er endlich in anderen Gestalt als Himmelskörper unsterblich wird. 10 vorzügliche Sänger, groß und bunt aufkostümiert, firmieren als diverse mythologische Formationen in diesen kontrastiven, nicht sehr dramatischen Szenen, die eher wie eine in verästelter Polyphonie sich spreizende Meditation über das apollinische und das dionysische Prinzip, über Leben, Kunst und Tod wirken. Bis der Orfeo von Juan Francisco Gatell im Spiegelanzug als Discokugel zum Stern wird. Philosophisch leise streicht hier also als ein Mann in Amsterdam die Segel, der die Stadt 30 Jahre beglückt, beschenkt, manchmal auch verärgert hat. Aber so ist es eben, das Opernleben.

Der Beitrag Pierre Audi hört in Amsterdam auf: mit Henze, Landi, Stockhausen – Opera forward erschien zuerst auf Brugs Klassiker.


Viewing all articles
Browse latest Browse all 826