Unvorstellbar. Man mag einfach nicht begreifen, wie Giuseppe Verdi, 1867 ein erfahrener Komponist von 54 Jahren, der berühmteste Italiens zudem, neuerlich eingeladen von der ihm so verhassten „Grande boutique“ Opéra de Paris, es hinnehmen konnte, dass seine beste Oper auf Dauer so verunstaltet wurde. Seinen ungewöhnlich ambitionierten „Don Carlos“ hat man gekürzt und schließlich – meist um einen Akt gebracht, wenn auch von ihm dahingehend überarbeitet – immer nur auf Italienisch gespielt. Dabei ist seine vierte und finale Schiller-Vertonung mit im Original und komplett vier Stunden Spielzeit nicht nur eine der im wahrsten Wortsinn größten französischen Opern überhaupt, sie manifestiert die Erfüllung des Prinzip Grand Opéra als Musiktheater mit historischer Fallhöhe, breiten Tableaux, politischem Hintergrund und scharfen Kontrastwirkungen. Das Schicksal von sechs Personen wird hier im Öffentlichen wie Privaten abgehandelt, die Oper ist immer spannend, hat eine spezifische, Verdi so wichtige Klangfarbe und sie fließt über vor unvergesslichen Gesangsszenen und Melodien. Trotzdem tat sich der Opernbetrieb über ein Jahrhundert schwer mit dem Original. Kunststück, wurde doch selbst die italienische Rumpfversion erst ab den Fifties wirklich ein Repertoirewerk. Und wenn der „Don Carlos“ auch Mitte der Siebzigerjahre musikwissenschaftlich rekonstruiert wurde, man sieht ihn – aus Faulheit und Nachlässigkeit – nach wie vor nur selten. In Frankreich aber, wo man mit den Grand Opéras besonders grausam umgesprungen ist, war der „Don Carlos“ eben an den beiden ersten Häusern sogar zweimal in einer Saison zu erleben. Nach der Pariser Bastille Oper folgte nun triumphal die Opéra de Lyon.
Wobei „triumphal“ eigentlich das falsche Wort ist angesichts von so viel Dunkelheit, einer schlichten, aber raffinierten Bühne, monochromen Kostümen und einer luzid dunklen Intimität, mit der sich so beweglich wie nachdrücklich die Musik verströmt. Letzteres ist das Verdienst des neuen Lyoner Musikchefs Daniele Rustioni, der sich längst als einer der jungen, führenden Dirigenten im italienischen Fach etabliert hat. Und der hier sehr genau auf die stilistischen Unterschiede achtet, die den französischen „Don Carlos“ in ein noch stärker nach innen gerichtetes Charakterdrama verwandeln, schon weil der Text so viel mehr Poesie und Wahrheit hat als die italienische Zweitfassung. Auch die Fortissimo-Ausbrüche bleiben gefasst, da donnert nichts, diese Meditation über Staat und Kirche, Privat- und Allgemeinwohl eine problematische Vater-Sohn-Beziehung, eine verratene Männerfreundschaft, über Eifersucht und verkorkste Mutterliebe wird umweht von trostloser Melancholie, selbst in den wenig freudig himmelstrebenden Momenten.
Der französische Literat und Filmemacher Christophe Honoré, der nur in Lyon bisher zweimal Opern inszeniert hat, hält sich scheinbar zurück und hat doch alles sehr bewusst im Griff. Nie wird die Bühne wirklich hell, schon die Holzfäller des impressionistisch ausgezehrten Anfangs erscheinen zwischen Nebelschwaden als schattenhafte Gestalten. Sie betrauern und begraben („das Leben ist hart, der Winter kalt, der Hunger groß“) ein Kind, der Tod ist von Beginn an präsent genauso wie das hier aufgepflanzte Kreuz der katholischen Kirche. Das Volk freilich ist links an den Rand gerückt, rechts stehen Podeste, wallen Vorhänge, hinter denen die blauweiß gekleidete Elisabeth und später Carlos im sich darin versteckenden roten Mantel sichtbar werden.
Sally Matthews hat ein störendes Vibrato entwickelt, doch wenn die Stimme stärker gefordert wird, kann sie dies immerhin in Ausdrucksnuancen umwandeln. Der jünglingszarte Sergey Romanovsky singt mit lyrisch offener Stimme, macht Leidenschaft, aber auch Verlorenheit dieses allzu schwärmerischen Infanten deutlich. Sie sind sich schnell nah, müssen sich aber, die Verhältnisse, die plötzlich den eigenen Vater zum Brautwerber der nunmehrigen Stiefmutter werden lassen, erfordern es, wieder voneinander entfernen. Honoré zeigt das sehr schön, Carlos ist plötzlich unten beim Volk, wartet auf das „Ja“ der künftigen Königin gegen ihn; diese wird von der Masse auf ein weiteres Podest getragen. Jeder der königlichen Familie hat immer auch noch diverse Begleiter und Schranzen um sich, die Vertrauten sind farbig, Honoré hat da offenbar einen Fetisch, so wie auch mit den differenzierten, meist schwarzweiß gehaltenen Kostümen Pascaline Chavanne, die irgendwie fremd, aber besonders aussehen, zeitlich nicht einzuordnen sind.
Deutlich wird im folgenden Klosterbild, wo an einem schwarzen, abgestoßenen Turmbau eine riesige Leinwand des gekreuzigten Christus lehnt und der halbnackte Carlos an der Treppe zu Gruft seines Großvaters Karl V. zu meditieren scheint: diese Bühnenbilder Alban Ho Vans, das indirekte Licht mit seinen Schlagschatten, die ein wenig irren, schlampig-schönen Gestalten, das speist sich vage aus der sinistren Atmosphäre von Francisco de Goyas druckgraphischen Zyklus Caprichos mit seinen Irren, Bettlern, Klerikern, Richtern, der Welt abhanden Gekommenen. Nüchtern stellen sich hingegen die Gärten von Aranjuez als Arrangement aus Caféhausstühlen und Geranientöpfen dar; wieder, wie so oft hier, von Vorhängen eingerahmt, wie dann auch das Maskenfest samt folgenschwerer Verwechslung.
Die historische Prinzessin Eboli hatte nur ein Auge, die vokal dunkellockende, koloraturagile, aber auch mit schönem Mezzo-Nachdruck aufwartende Ève-Maud Hubeaux (in Paris sang sie den Pagen Thibault) sitzt, o fatales Geschenk ihrer Schönheit, mit einem steifen Beim im Rollstuhl. Großartig, wie das vor Carlos in der Scharade verborgen bleibt, um so fataler die Folge, als er seinen Irrtum erkennt. Schlank besetzt ist in konsequenter Casting-Ästhetik mit dem gar nicht so bassschwarzen, lyrisch klaren Michele Pertusi ebenfalls der König Philipp, eine schwankende, zaudernde Gestalt, dem seine Krone viel zu schwer scheint. Viele Kronen gibt es auch auf der immer mehr entgleitenden Party. Zum Divertissement der Hofgesellschaft produzieren sich hier vier Halbirre (zu einem Rest der sonst zwanzigminütigen Ballettmusik) grabschend und stampfend in einem Wasserbecken.
Nach der Pause sehen wir sie als Ketzer und zynisch auf halbe Höhe gehievte Ersatzkaryatiden im Autodafé-Bild wieder. Das ist ein nah an die Rampe gerückte Betonarchitektur mit Logen, wo adventskalenderartig unten das plötzlich passionsspielhaft bunte, zum präzise und voll singenden Chor aufgestockte Volk mit Palmwedeln platziert ist, in der Mitte das Königshaus, samt einbrechender flandrischer Gesandter und oben der Klerus, samt ebenfalls mönchisch gewandeter Stimme von oben (flattrig: Jeanne Mendoche) und sich herabsenkender Feuerleiste. Aufgeklappt dient das Konstrukt im nächsten Bild als Zimmer Philipps, wo im beredten Dunkel (das tolle Licht stammt von Dominique Bruguière) bei allem Mitleid mit dem gefühlskalt gewordenen Regenten, auch dessen Leichen im Königskeller zu ahnen sind. Fast gruselig die einander auf die Pelle rückende Auseinandersetzung mit dem betonhart auftrumpfenden Großinquisitor (hinter dicker Brille stimmstark: Roberto Scandiuzzi), die Intrigenhändel der Frauen, die Vermittlungsversuche Posas.
Den singt – erstmals wie alle anderen Protagonisten auch – der anbetungswürdige Stéphane Degout mit dunkler gewordenem Kavaliersbariton, schmeichlerisch, gefasst, nie larmoyant, hinreißend im Fluss und auf dem Atmen sich verströmend. Sein Tod im riesenhaft leeren Kerker mit der gefährlich schmalen Treppe nach oben und dem verzweifelt an seiner Fußfessel reißenden Carlos, der kaum an den Sterbenden herankommt, wird so zu einem Höhepunkt des intensiven Abends.
Der noch den fast schon transzendent von einer besseren Welt träumenden, umso schlimmer auf dem Boden spanischer Absolutismus-Realität aufschlagenden fünften Akt bereithält. Wieder dräut da Christus, Elisabeth hat sich mariengleich ihm zu Füßen geworfen. Stört die Inquisition samt dem in ihren Fesseln verharrenden König das letzte Liebesabschiedsidyll, erscheint hinter einem fallenden Vorhang als (schein-)heiliger Popanz eine weitere Maria als Riesenleinwand. Und neuerlich kommt einer dieser Zwergwüchsigen mit einem Licht herein, so wie sie vorher immer wieder das Dunkel funzelhaft erhellten. Diesmal ist es ein kleines Gespenst, das von innen strahlt. Das tote Kind des Anfangs? Es hüpft Carlos auf den Arm, sinkt leblos zusammen. Dieser steigt fatalistisch mit seinem Alter ego die Treppe zur Gruft hinab.
So erweist sich Christophe Honoré als zurückhaltender, origineller, poetischer Regisseur eines surrealen Minimalismus, der dem gern repräsentativ aufgetakelten, hier glorios musizierten und gesungenen Verdi-Stück seine Würde und Stärke lässt. Und Serge Dorny kann sich mit diesem „Don Carlos“, der zudem in ein Daniele Rustioni auf Trab haltendes Verdi-Festival mit einem wiederaufgenommenen „Macbeth“ und einem konzertanten „Attila“ eingebunden ist, im direkten Vergleich einmal mehr mit einem individuellen Ansatz gegen den ewigen Rivalen Paris behaupten.
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