Mögen draußen Dirigenten stürzen, in Verbier geht alles auf 1500 Metern seinen Walliser Festivalgang. Obwohl: James Levine und Charles Dutoit haben hier jahrelang das Jugendorchester geleitet, aber verhaltensauffällig wurden sie nie. Auch seit die #MeToo-Vorwürfe öffentlich sind, habe sich keiner beschwert, versichert Oberboss Martin Engström. Vermutlich auch, weil hier alle viel zu sehr aufeinander sitzen, 300 Akademisten, in inzwischen drei verschiedenen Orchestern, teilweise selbst längst professionelle Musiker, von vier Assistenten schon Wochen vorher fit getrimmt für die 12 Dirigenten. Dazu kommen 120 Mitarbeiter und die Lehrer, die meist selbst auch zum Künstlerstamm des Hauptfestivals gehören. Da sind Intimitäten jeder Art immer auch sehr schnell öffentlich. Musiker klatschen gern, und der berühmt-berüchtigte Pup Montford, in dem eine ganze Reihe von Jungstars, von Evgeny Kissin bis zur schnell auf den Geschmack gekommenen Yuja Wang ihre Nachtclub-Unschuld verloren haben, ist ein ganz besonders beobachteter Begegnungsort. Zum 25. Jubiläum bekam Engström übrigens einen Bilderrahmen, in dem die Stammbäume von mindestens 32, aus Festival-Beziehungen hier oder anderswo entstandenen Babys nachgezeichnet werden. Das also ist zumindest die offizielle Verbier-Dynastie.
Das Wetter hat sich leider temporär gewittrig eingetrübt, zum Schweizer Nationalfeiertag fällt nicht nur das Feuerwerk flach. Doch die 1700 Zuschauer fassende Salle des Combines besteht mit dem neuen Dach den Regen- und Gewittertest ganz leidlich. Zudem gut, wenn es hier mal ein wenig auskühlt. Dafür spielt das Chamber Orchestra unter dem eben 70 Jahre alt gewordenen Pinkas Zukerman eine hübsch kuscheligen Mozart. Nach der verhetzt-konfusen „Zauberflöte“ bei den Salzburger Festspielen macht es durchaus Laune, die Ouvertüre einmal wieder ein wenig plüschig, aber trotzdem behend dahinhuschend zu hören. Auch das 3. Violinkonzert kann man heute angespitzter, prickelnder hören, aber der weiche, sensitive Zukerman-Zugang, hat – im Vollbesitz seiner Technik – durchaus auch seine sympathische Interpretationsberechtigung.
In Verbier hat man immer die Qual der Abendkonzertwahl. Während sich morgens und nachmittags zweimal Kirche nichts ins Gehege kommen (höchstens die unzähligen Academy-Hörmöglichkeiten, die sich räumlich über das ganze Dorf verteilen, wird es aber abends schwer: Orchestrales oder Starglamouröses im Combines um 19 Uhr tritt mit den eine Stunde später beginnenden Kammerkonzerten in der Église in Konkurrenz. Ich entscheide mich statt für Zukerman/Brahms in der zweiten Konzerthälfte für Mikhail Pletnev. Schließlich ist der so selten in Soloabenden zu hören. Schlimm sieht er aus, vom Leben vorfristig gezeichnet, auratisch starrt er den Flügel, nicht das Publikum an. Klatschpausen zwischen Werkgruppen sind ihm zuwider, am liebsten würde er alles attacca spielen.
Er beginnt mit Beethovens Apassionata, harsch, schroff dem Flügel abgetrotzt, aber irgendwie faszinierend in ihren unorthodoxen Konsequenz. Ein-, zweimal scheint das Werk, besonders im Mittelsatz, fast zum Stillstand zu kommen. Generalpausen werden maßlos überdehnt, doch Spannung bleibt bestehen. Pure Magie dann die zweite Rachmaninow-Hälfte, elf kleine Stücke unterschiedlicher Couleur plus drei Zugaben, herrlich ausgehört, sensibel, ungemein raffiniert voneinander unterschieden. Das ist dann eben doch ganz große, ganz feine Klavierkunst, Atmosphärezauber, Salonkunststückchen mit Temperament und feinfühliger Nonchalance serviert. Ein Autist, aber was für einer!
Natürlich ist Pletnev später nicht bei der Party in Dawns reizend auf alt getrimmtem, treppenreichen Chalet. Tomaten und frisch aus Italien mitgebrachte Burrata vertreten wunderfein die Schweizer Farben, das Geschnetzelte samt Kartoffelbeilage hat erfolgreich den Röstigraben übersprungen. So wie die Hauseigentümerin tags zuvor noch vom höchsten Schweizer Berg, der Dufourspitze im Monte-Rosa-Massiv (4634 Meter) parageglitten ist. Es ist kalt, aber gemütlich, man trotzdem draußen auf den Balkonen. Yuja Wang, eng umschlungen mit einem weit jüngeren Klaviertalent, nachher wird noch abgetanzt.
Am Morgen dann, in der Kirche, trifft erstmals das Quatour Ébene auf András Schiff, der sich ja lange Verbier verweigert hat, aber jetzt offenbar sehr gerne da ist. Zwei Spitzenquintette, die von Schumann und Franck stehen an. Ersteres ist reines Temperament, Rhythmus, auf den Punkt gestrichen und getastet. Das Klavier, obwohl zurückhaltend, lässt sich nicht unterkriegen, willig ordnen sich die französischen Vier dem ungarischen Führer unter. Der aber pusht nicht, gibt eher locker Tempo und Rhythmus vor. Ganz spätromantischer Stimmungszauber ist dann das César-Franck-Piece. Lange ausgehalten, wird hier die chromatisch changierende Harmonik, die spezielle Stilistik dieses Schwellenwerks zum Impressionismus farbenreich herausgearbeitet. Pathos und Sentimentalität, Drama und Traum mischen sich diskret. Dals Publikum trampelt begeistert über diese spezielle Verbier-Mischung. Der Magic Mountain hat wieder funktioniert und ist mit seinem Musikdrogen im breitgefächerten Angebot weit mehr als nur ein Magic Mushroom…auch deshalb, weil längst wieder die Sonne freigibig scheint.
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