Vor elf Jahren war ich zuletzt da, aber alles scheint vertraut: Flug nach Genf, hechelnd zum Zug nach Martiny und Warten auf das nicht kommende Taxi der dortigen Zahldroschkenmafia. Dann windet sich doch noch ein freundlicher Ersatzfahrer über die steilen Kurven auf den Bergsattel in Val de Bagnes, hin nach Verbier – im Winter Skiparadies auch abseits der Pisten mit 4000 Einwohner und 25.000 Gästebetten, aber im Sommer auch nicht mehr ohne und leer. Denn im 25. Jahr veranstaltet hier Martin Engstöm sein Verbier Festival. Mit einer Million Franken an Subvention, die 12 Millionen örtlichen Umsatz bringen. Das hier war eben schon immer ein sonnig beschienener Hügel der Reichen. 800 Mäzene stellen zudem treue 20 Prozent des vorwiegend frankoschweizer Publikums. Dazu kommt aber eben auch ein verlässliche Zahl internationaler Stammgäste als Wiederholungstäter, die dabei sein wollten, als Martha Argerich mit dem angstzitternden Nigel Kennedy die Kreutzersonate spielte, als Evgeny Kissin erstmals mit James Levine vierhändig auftrat, Barbara Bonney nach Scheidungssingabstinenz sich im Mozart-Reqiuem vernehmen ließ oder Anne-Sophie Mutter für einen unpässlichen Orchesterleiter erstmals Manfred Honeck geboten bekam – mit dem sie heute ein Dreamteam bildet.
Mein Wagen rast durch das leere, im Abendschein von Kränen überragte Dorf. Vieles wird hier abgerissen und ersetzt. Der Beton-Heidi-Stil der Seventies weicht jetzt dem rustikal durchdesignten Aspen-Chic, Style (oder auch nicht Style) geht in der kleinsten Hütte, selbst wenn die zwar Châlet heißt, aber durchaus Schlösschenausmaße hat. Ich werde backstage durchgewunken, habe kaum Zeit, den neuen, auch schon wieder seit sieben Jahre stehende Plastikkonzertsaal Combins zu betrachten, der auf einem weiteren Parkplatz das erste Zelt Medran auf der anderen Ortsseite neben der Seilbahn ersetzt.
Drinnen ist es blaugetönt, wohl inzwischen die Verbier-Farbe, auch auf der Bühne, vor der rosa und weiße Orchideen blühen. Noch größer als früher wirkt es, gerade registriere ich noch die Objektivaugen der automatischen Kameras, die für medici-tv die Verbier-Konzerte in die Welt hinaussenden und archivieren, das ganze Festival lang; einst eine Pionierleistung. Und dann kommt er auch schon, viel Haare im Gesicht, dünn, bleich, aber grandios. Daniil Trifonov. Der ergänzt hier spielend die legendäre Russengang der Stammkünstler, heute abend „nur“ mit seinem Chopin umtastenden Tournee- und CD-Programm. Aber auf diesem Niveau kann man es gar nicht oft genug hören.
Allein wie Trifonov nach der Pause in der b-moll-Sonate im Trauermarsch die Melodie des lichten Des-Dur-Mittelteils fadenfein ausspinnt, bis zum Zerreißen dehnt, aber nie die Spannung abreißen lässt in diesem zarten Tröstungssang, das ist ein Moment für die Pianistenewigkeit. Auf zwei Leinwänden sieht man dazu den Protagonisten ganz nah vor der gegenüber durch den Klavierdeckel ihn ablichtenden Kamera, der Schweiß tropft beständig aus den naselangen Haaren, perlt auf dem Anzugkragen wie die Aureole eines verzückten Ikonen-Heiligen. Und auch wenn immer noch Hintergrundgrummel im Zelt, das für einen leicht wattierten Klang sorgt, und das unvermeidliche Handyklingeln ablenken, die Leinwände tun es definitiv nicht. Wenn Trifonov in der ebenfalls ganz leicht genommenen Transkription des 2. Satzes der Chopin-Cellosonate verquält-vergeistigt nach oben blickt, dann sind solches genauso ikonografische Momente wie seine schlank und elfenbeinfarben über die Tasten laufenden Finger, die seltsamerweise das Klangerlebnis durchaus intensivieren.
Verbier, das ist einerseits die Auseinandersetzung mit Künstler in unterschiedlichen Kombinationen, aber eben meist auch in mehreren Auftritten. Trifonov etwa spielte beim Galakonzert zum 25. Jubiläum, und die Uraufführung seines neuen Klavierquintetts (ursprünglich für die Alte Oper Frankfurt und das Klavier Festival Ruhr geplant) fand ebenfalls hier im Wallis statt. Zudem springt er am 4. August für den kranken Denis Matsuev im 2. Prokofiew-Konzert ein.
Verbier ist aber auch Party danach, Essen und Trinken in Privat-Châlets, wo sich die tags und abends über das ganze Dorf verteilte Künstlerschar sammelt, isst, klatscht und feiert. Und für manches Party Animal werden hier die Nächte sehr kurz, Yuja Wang, seit zehn Jahren schon Verbier-Dauergast, zieht schuldbewusst ein komisch-verzweifelt-verschmitztes Gesicht. Sie ist bereits am heutigen Essensort, einem rustikal-feinen Lokal, wo auch schon András Schiff Hof hält. Auch Dietmar Müller-Elmau, Martin Engströms Dauerbuddy, der jeden November auf seinem Luxushotelmusikschloss in den Garmischer Alpen eine Verbier-Abordnung zum konzertieren empfängt, ist da. Und vom parallel in der Kirche laufenden Konzert kommen jetzt Leonidas Kavakos, Hanna Weinmeister, Clemens Hagen sowie Magdalena Kozena samt Gatten Simon Rattle, der hier sein unerwartete Debüt geben wird: als Einspringer für Ivan Fischer übernimmt er die 5. Beethoven-Sinfonie mit dem Jugendorchester.
Trifonov hingegen muss sich nach dem Konzert sammeln und ausruhen, auch sein Lehrer Sergei Babayan und der fast die ganze Festivalzeit hier verbringende Lucas Debargue, wurden zwar in der Pause backstage, aber nun nicht mehr bei Gänseleberpastete, Trüffelpüree, Gambas und Kaviarkartöffelchen gesichtet.
Nach der Party ist vor dem Konzert. Und so blieben auch die jüngste Cello-Entdeckung Kian Soltani und sein Klavierpartner Aaron Pilsan abstinent, die haben am nächsten Morgen in der Kirche zu spielen. Auf dem Weg dorthin biege ich noch schnell zum Dorfkino ab. Dort hilft gerade im Rahmen der Verbier Academy der Quatuor-Ebène-Cellist Raphaël Merlin dem Amatis Piano Trio im ersten Satz des Ravel-Trios ein wenig auf die interpretatorischen Sprüngen. Vor erstaunlich gefüllten Reihen, gibt es Interessantes zu hören wie etwa: „Der Vulkan ist explodiert, lass jetzt sanft die Asche rieseln“ oder die ewige Ermahnung möglichst spontan zu spielen, so dass es wie improvisiert klingt und die Zuschauer in die Kommunikation miteinbezogen sind.
In der warmen Kirche (das Wetter wird im Lauf des Tages auf Gewitter, Wolken und Abkühlung umschlagen) herrscht dann Konzentration pur. Soltani und Pilsan spielen vor den vollen reihen ganz versunken Bachs Sonate G-Dur BWV 1027 für Gambe und Klavier sowie die stilistisch nur wenig unterschiedlich angelegte, aber intensiv tönende 1. Cellosonate von Johannes Brahms. Nach der Pause bannen sei das Publikum mit Tomas Larcher schrägem, aber klangmächtigen Ötzi-Stück „Mumien“ sowie Soltanis aktuellen Party Pieces, den Persischen Volksliedern seines Landsmannes Reza Vali, Piazzollas Grand-Tango-Abräumer sowie Demenga und Schumann als gerne gewährten Zugaben. Das große Starsolistenkonzert, die Überraschungskünstlermischung, die intensiven Lernprogramme und die kammermusikalisches Versenkung – in Verbier funktioniert dieses Rezept nach wie vor.
Der Beitrag 25 Jahre Verbier Festival I: Alles schön wie immer, aber Daniil Trifonov in Großaufnahme steigert das noch erschien zuerst auf Brugs Klassiker.