Der letzte seiner Art? Zumindest wird es einen solchen wie ihn im taffer werdenden Operngeschäft wohl kaum mehr geben. Als 2010 nach 18 Jahren als Wiener Staatsoperndirektor Ioan Holender den symbolischen Hut nahm, war er der letzte Dinosaurier alten Impresarioschlags und zugleich wurde die letzte osteuropäische Diktatur in Europa abgewickelt. Da war und ist Pierre Audi ein ungleich weltläufigerer, ganz anders herrschender Intendant. Der 1957 geborene Libanese ist zweifach Immigrant, erst – infolge des Bürgerkriegs – als Internatsschüler in England, dann als Intendant in den Niederlanden. Opernnaturalisiert wurde er in London und Liebermanns Paris, doch war er als Chef des experimentellen Almeida Theatre im Praktischen ziemlich musiktheaterunbeleckt. Als es aber kurz nach dem Neubau des Het Muziektheaters in Amsterdam dort zur künstlerischen Katastrophe kam, wählte ihn die ebenfalls erst kurzzeitig amtierende Verwaltungsdirektorin Truze Lodder zu ihrem künstlerischen Kompagnon. Sie hat gut daran getan: als sie nach 25 freudvollen gemeinsamen Jahren ausschied, hängte Audi noch weitere fünf dran. Und geht jetzt nach drei Dekaden, in dem er die heutige Dutch National Opera als wichtige Landmarke auf den Opernweltkarte etablierte. Und natürlich geht einer wie Pierre Audi mit (knapp) 61 Jahren noch nicht in Rente. Nachdem er zusätzlich zehn Jahre das Holland Festival leitete, kümmert er sich jetzt noch – trotz junger Familie mit Ehefrau Mareike und zwei Kindern – um die ambitionierte Park Avenue Armory in New York und ab nächsten Sommer um das Festival in Aix-en-Provence. Nun aber, Nachfolgerin Sophie de Lint ist seit einem Monat im Amt, gab es erst einmal eine so unterhaltsame wie kluge und auch berührende Abschiedsgala – auf niederländisch sachliche Art.
Pierre Audi hat mal scherzhaft gesagt, einer seiner größten Verdienste sei es, dass er der königliche Familie die Oper nahegebracht habe. Die gegenwärtige Königspaar kommt regelmäßig, und Prinzessin Beatrix ist längst eine Freundin geworden. Die natürlich auch jetzt dem Abschiedsabend, dem ersten am Haus, den er nicht selbst verantwortete, den royalen Glanz gab, zusätzlich zu Botschaftern, Ministern, der Amsterdamer Bürgermeisterin, aus der ganzen Welt angereisten Kunst- und Opernfreunden und seinem loyalen Publikum. Audi selbst, der gern mit bildenden Künstlern zusammenarbeitete, hat sich vor allem als engsten Mitarbeitern gern mit Deutschen oder dort naturalisierten Charakteren umgeben. Mit Pamela Rosenberg als erster Besetzungschefin, Klaus Bertisch als bis heute an seiner Seite zu findendem Dramaturg, gleich drei von vier Chefdirigenten (Hartmut Haenchen, Ingo Metzmacher, Marc Albrecht – der mit dem Nederlands Philharmonisch Orchest aus dem Concertgebouw mit Janaceks Sinfonietta-Fanfare per Videobotschaft grüßte), seinem langjährigen Bühnenbildner Michael Simon, dem oft hier eingeladenen Regisseur Christof Loy, der einige der Gala-Segmente inszeniert hat.
Die Dutch National Opera unter Audi stand für Weltoffenheit und Überraschung. 30 Uraufführungen gab es, davon nicht wenige von niederländischen Komponisten. Dazu viel, gerade neu entdeckte Barockmusik, eine geringere Dosis Belcanto (die teuren Goldkehlen konnte und wollte man sich hier nur selten leisten), aber auch die großen Wagner-Klopper gipfelnd im 15 Jahre lang am Stagione Haus gespielten, von 150.000 Menschen gesehenen „Ring“. Riccardo Chailly und Mariss Jansons haben mit dem Concertgebouw Orchest ihre seltenen Opernauftritte hier absolviert, Simon Rattle entwickelte mit dem Rotterdam Philharmonic eine langjährige Partnerschaft, die auch von Yannick Nézet-Séguin fortgesetzt wurde. Und vielfach, wie auch am Galaabend, stand Carlo Rizzi am Pult.
Regiekollegen Monique Wagemakers hat jetzt die Gala betreut, die von angekündigten 90 Minuten natürlich auf drei Stunden (für drei Dekaden) wuchs und trotzdem schlank blieb. Der so wichtige Chor des Hauses produzierte sich mit Berlioz und Borodin, war Bejun Mehta ein starker szenischer Partner in den Unterweltszenen aus Glucks „Orfeo ed Euridice“. Vorher sang der schon, stark und minimalistisch gestellt mit Sandrine Piau und Christophe Rousset am Cembalo das Schlussduett aus Monteverdis „Poppea“. Das Nederlands Kamerorkest ließ sich mit dem Ungarischen Marsch von Berlioz und Tschaikowskys „Onegin“-Walzer vernehmen. Thomas Oliemans croonte sehr gekonnt und sich selbst am Flügel begleitend Charles Trenets „Que reste-t-il de nos amours“; wobei noch einmal vor dem inneren Auge die vorher als gekonnte Collage vorbeigerauschten Bilderschnipsel aus drei Audi-Jahrzehnten aufschienen.
Der Spieltenor Christopher Gillett legte eine wunderbare Parodie auf Audis Probenmanierismen auf die leere Bühne. Michel van der Aa steuerte die kleine, von Metzmacher dirigierte Uraufführung „Il Ritorno“ bei, an deren Ende Claron McFadden die Musik in einer Matchbox verschwinden ließ. John Osborn schmetterte C-stark das eigens mit viel „Pierre Audi“ und „Aix-en-Provence“ umgedichtete „Ah mes amis“ aus der „Regimentstochter“ bei. Berührend zu sehen war der stumme Kameraschwenk über alle versammelten Mitarbeiter zu John Cages tonlosem 4’33’’. Edo de Waart, der vierte Musikchef, erinnerte sich per Einspielung an raue und rasante Zeiten, das Sextett aus „la Cenerentola“ wurde als ziemlich vitaler Leistungsbeweis des eben eingerichteten Opernstudios präsentiert, das Audi ebenso am Herzen lag wie das neue Opera Foreward Festival. Nur auf einen Kleinen Saal hofft er jetzt noch in der Zukunft.
Ein paar Reden von der Hausdirektorin, dem Board-Vorsitzenden und der Kulturministerin gab es auch, sachlich, kurz, niederländisch offen und deutlich dankbar. Die Uni Amsterdam richtet einen Pierre-Audi-Lehrstuhl für Oper und Theater ein, es wurde ein weiteres Audi-Buch vorgestellt und er selbst bekam die neukreierte („Wir wissen nicht, wer sie als nächster bekommt) Odeon Medaille und bedankte sich selbst so ruhig wie sachlich bewegt.
Davor aber lieferte das ebenfalls hier auftretende Dutch National Ballet mit dem Philip-Glass-Duo „Replay“ von Ted Bransen seine Audi-Referenz (erst seine Nachfolgerin denkt jetzt auch mal über gemeinsame Produktionen nach) und es sang Barbara Hannigan, die abends zuvor noch in Paris Opernuraufführung hatte, in einem für den Security Check sicherlich schweißtreibenden Reifenkleid mit dem fragilen Reinbert de Leeuw am Klavier zwei Hugo-Wolf-Lieder. Zum Finale gab es, ganz unüblich, die von Audi hier auch schon inszenierten letzten „Guillaume Tell“-Takte, welche in wiederholten „Liberté“-Ausrufen gipfeln. Mit auf der Bühne dabei: der Vokalveteran Roger Smeets. Und keine DTO-Feier ohne die üblich calvinistische Party-Verpflegung: Gemüsesticks und Bitterballen! Eine nächste Verabschiedung ähnlicher Art dürfte es wohl erst in Frankfurt geben. Wenn der jetzt 65-jährige Bernd Loebe 2023 wirklich geht, dann hat er es dort immerhin auch auf 21 Intendantenjahre gebracht.
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