Wenn man nachts um viertel nach Eins ein letztes Mal in C-Dur sich langsam und machtvoll aufschwingendes „Liberté“ hört während gleichzeitig der Blick über 37 Höhenmeter 2000 Jahre alter römischer Theaterrückwand zu den Sternen des Provence-Himmels schweift und man Gänsehaut bekommt, dann weiß man, dass man dieses Abend am richtigen Ort verbracht hat. Bei der ersten und vermutlich sehr lange einzigen Aufführung von Gioachino Rossinis helvetischem Schwanengesang „Guillaume Tell“, der in Frankreich in den letzten Jahren eine eher kümmerliche Existenz führte. Während der grandiose Vierakter von Pesaro bis London, München, Zürich, New York, Amsterdam, Wien, Mannheim, Wildbad eine schöne Renaissance erlebt, ist an der Pariser Opéra Fehlanzeige, aber in Lyon steht dieses von Naturklängen durchpulste, zu großen Tableaux arrangierte Meisterwerk im Herbst auf dem Spielplan. Und Jean-Louis Grinda, nach seinem Vater der zweite echte Monegasse auf dem Intendantensessel der anderen Garnier-Opéra in Monte-Carlo, hat das Monstré sacré ganz bewusst im antiken Theater von Orange in seiner vierten Sommer als Direktor angesetzt: schließlich soll der 150. Geburtstags des ältesten Musikfestivals der Welt mit einem besonderen Opus gefeiert werden.
Ab 1869 feierte man hier, dem Geist des Ortes folgend, „Römische Feste“, freilich jugendfrei. Ab 1902 setzte sich der auf die ebenfalls antiken Chorumzüge anspielende, bis heute gültige Begriff der „Chorégies d’Orange“ durch. Das Konzept eines Musikfestivals geht auf Hector Berlioz zurück, Richard Wagner machte es in Bayreuth berühmt. Doch ist eben hier, als Klangfeiern in Südfrankreich, die Mutter all dieser Veranstaltungen.
Eine solche Langlebigkeit – das Festival überstand gleich die Kriegsniederlage von 1871, beide Weltkriege und den Mai 1968 – ist außergewöhnlich. Außergewöhnlich ist auch der Ort: das um 20 n. Ch. erbaute römische Theater von Orange, heute Weltkulturerbe der Unesco, nicht zuletzt wegen seiner bestens erhaltenen Rückwand. Das nicht mehr originale, an einen Hügel gelehnte Sitzstufenrund fasst um die 9000, gequetscht sitzende Zuschauer; heute haben meist 7000 nur wenig mehr Platz. Der Ort ist magisch, die Akustik ist es auch. Mürbe macht höchstens der Mistral, wenn er zu sehr wütet. Die pfeifenden Mauersegler verschwinden, wenn das Licht angeht, und auch die Grillen schweigen bald fein still. Die Natur macht sich der Kunst untertan.
Sarah Bernard hat hier tragödet, wie viele andere Schauspieler der Comédie Française, die hin Orange bis zum zweiten Weltkrieg vorwiegend spielten. Oper war eher selten, ab und an gab es auch mal ein Konzert. Einen gloriosen Neubeginn erlebten die „Chorégies Nouvelles“ dann ab 1973 mit einem längst legendären, zum Glück in Bild wie Ton festgehaltenen „Tristan“ unter Karl Böhm mit Birgit Nilsson und John Vickers; Nikolaus Lehnhoff hatte damals alle Mühe, Heinz Macks Lichtsegel vor dem Zerreisen im Mistral zu bewahren. Diese Aufführung fand freilich nur einmal statt, ebenso wie die nicht minder legendäre „Norma“, bei der der Wind sogar Montserrat Caballé fast davonwehte.
Zu dieser One-Show-Politik will teilweise auch jetzt Grinda zurück, der ein Festival in finanziellen Kalamitäten und in der Auseinandersetzung mit der rechtslastigen Stadtregierung erbte. „Lieber spiele ich ein Stück wie den ,Tell’ einmal vor vollem Amphitheater-Rund statt zweimal für je 5.000 Leute. Das ist finanziell günstiger. Den ,Don Giovanni’, den er hier auch nur einmal 1996 gab, führen wir als zweiten Operntitel dieses Jahr zweimal auf.“ Grinda, der auch mit dem Bürgermeister sich arrangiert hat, weitet lieber das Angebot aus. So sind jetzt vor der historischen Kulisse auch Mahler-Sinfonien, ein sinfonisches Konzert mit DJ für die Jüngeren, das Ballet de Monte-Carko mit „Romeo und Julia“ oder eine spanische Zazuela-Nacht mit Plácido Domingo im Chorégies-Rahmen zu erleben. Dass eine Gala mit Anna Netrebko nebst Gatten abgesagt wurde, stört Grinda nicht weiter, das war eine Untervermietung.
80 Prozent des Budgets von sieben Millionen Euro muss Jean-Louis Grinda selbst einspielen. Sein Publikum kommt ebenfalls zu 80 Prozent aus dem Dreieck Lyon, Montpellier, Nizza. Er ist ein Pragmatiker und gut vernetzt, das hat ihm schon bei seinen früheren Posten in Reims, Lüttich und Nizza genützt. Außerdem hat er in seinen Anfängerjahren schon mal in Orange mitgearbeitet. In den letzten Jahren hat das Festival finanziell zu schwächeln begonnen, weil man dauernd die gleichen zehn Opern angesetzt hatte. Da brachten dann auch die größten Stars, von Alagna, Gheorghiu, Vargas, Kaufmann, Damrau an, nicht mehr genügend Anziehungskraft auf. Grinadas Konzept hat dann letzten Sommer gegriffen, als er eben nur einmal „Mefistofele“ mit Ewing Schrott spielte. Und den ebenfalls hier raren „Barbiere di Seviglia“: „Ich will Oper für die Menschen machen. Viele gehen nur hier ins Musiktheater, manche Familien schon über Generationen hinweg. Die sollen sich wiederfinden, auch wenn ihnen ein Titel unbekannt vorkommt.“
Alle Stars haben hier gesungen oder wollen es. Schon 1869 hat man hier drei Tage lang mit Musik gefeiert, um ein altes Theater, das als Wohnviertel, Kaserne, Krankenhaus gedient hatte, wieder als Theaters zu beleben. Anders als in Verona oder Nîmes, kämpften hier keine Gladiatoren oder wurden christliche Märtyrer von Löwen gehetzt, in Orange kannte man nur Deklamation, Musik, Tanz.
Grinda ist mit Jonas Kaufmann im Gespräch, ein erster avisierter Titel passte noch nicht, und sein Traum ist – Cecilia Bartoli in einer Oper. Schließlich hat er mit ihr das Alte-Musik-Orchester Les Musiciens du Prince-Monaco gegründet. Dem steht Gianluca Capuano erfolgreich vor, der jetzt auch den „Tell“ sehr idiomatisch, ruhig und raumgreifend dirigiert – am Pult des Orchestre Symphonique de Monte-Carlo. Auch der Chor kommt aus dem Fürstentum, ergänzt um den Chor der Oper von Toulouse, die zwölf Balletttänzer hingegen steuert die Oper in Avignon bei. Une affaire du Midi eben.
Auf den zentralen, teuren 275-Euro-Plätzen liegen die Opernprospekte für Monte-Carlo aus, hier gibt es auch rote Sitzpolster, während das übrige Publikum seine Hinternweichmacher mitbringen muss. Oder mit provencalischem Muster gegenüber vom Eingang erwirbt, die findigen Händler haben auch Papprücksitze (6 Euro) oder Holzgestelle ohne Beine (50 Euro) im Angebot. Das gehört zu den Ritualen à la Orange, so auch die frühe Anreise, um nicht im Parkplatzkalamitäten zu kommen, und die flächendecke Menue-Formule in allen Restaurants, die vor dem Beginn um 21.30 Uhr die Speisung der Zigtausend professionell gewährleisten. Vor und nach der bis zum Ende kurzärmlig verbrachten Oper ist dann der Stopp bei einer besonders guten Eistheke obligatorisch.
Und der „Tell“? Eine runde Sache. In nur vier Tagen bei bis zu 40 Grand auf der Bühne (oder in einer gekühlten Turnhalle) geprobt, geht es hier natürlich nicht um viel Interpretation, gar Experimente. Jean-Louis Grinda selbst hat ihn, wie schon zweimal in Liège und einmal in Monaco, selbst inszeniert und einfach mit seinen bewährten Mitarbeitern die Rezepturen neu gemischt. Dieser Schweizer Ruf nach Freiheit findet in weiträumigen Chrorarrangements statt, die mal folkloristischen, mal die Entstehungszeit spiegelnden Kostüme hat Françoise Raybaud geschneidert.
Die kriegerischen wie pastoralen Elemente spiegeln auf der sonst leeren Bühne die Projektionen von Éric Chevalier und das stimmungsvolle Licht von Laurent Castaingt. Da zoomten wir in einen Zeichentrickschweiz, dann folgt eine sattfarbene Alpenlandschaft. In den Wäldern am Vierwaldstätter See spielt der Wind, die Abendsonne scheint zwischen den Stämmen hindurch, am Boden kräuseln sich die Wellen. Die Gessler-Residenz bildet die antiken Steine nach, und am Ende steht die alte Kaiser-Augustus-Statue (mit dem ergänzten Kopf) in einem demokratischen Strahlenkranz. Am Bühnenrand gibt es eine kleine Ackerfurche, die Tell und sein Sohn durchpflügen. Ein Junge wird beim Sähen von den österreichischen Okkupanten aufgehalten, am glücklichen Ende fährt ein Mädchen damit fort. Die gute Rossini-Erde als Belcanto und Boden.
Der bewährte Nicola Alaimo mit seinem eher leichten, honigfarbenen Bariton passt als ruhiger Tell mit seiner Leibesfülle perfekt auf die Cinemacopefläche, in deren Mitte ein verdrehtes Holzlattenrund zur schiefen Spielfläche (wir sind schließlich im Gebirge!) werden kann. Celso Albelo hat die Kraft und die Neven für die vielen hohen Arnold-Cs, den schöneren, geschmeidig runden Tenor besitzt freilich Cyrille Dubois in der Ein-Arien Rolle des Fischers Ruodi. Annick Massis ist eine inzwischen frankophon angesäuerte Soubretten-Mathilde, aber mit noch rund laufender Koloratur. Überbesetzt, aber wundervoll macht die samtstimmige Jodie Devos den Jemmy wichtiger als er ist – die Arie war natürlich gestrichen, aber das feine Frauenterzett im letzten Akt blieb erhalten. Nora Gubisch verströmt Autorität als Hedwige, Nicolas Cavallier und Nicolas Courjal haben die nötige Bassschwärze für den Walter Fürst und den Gessler.
Die Habsburger-Soldaten fahren auf einer Art Panzerprototyp herein, Eugénie Andrin choreografiert abwechslungsreich Hochzeitstänze, Kuhreigen, Kinderkreise, aber auch feindliche Übergrifflichkeiten auf die Dorfmädchen. Der Rütlischwur mit den Chormannen, die durch die seidige Nacht schallen ,ist aber ganz traditionell als Aufmarsch inszeniert. Und das letzte „Liberté“ wird an der Rampe geschmettert. Riesenbeifall nach vier Opernstunden von 14.000 Händen ist die Folge.
Der Beitrag Schweizer Freiheit unter den Sternen der Provence: die Chorégies d’Orange feiern als ältestes Festival mit „Guillaume Tell“ ihren 150. Geburtstag erschien zuerst auf Brugs Klassiker.