Das Festival international d’Art lyrique d’Aix-en-Provence hatte für die Opernleckermäulchen immer schon eine gute Portion Zeitgenössisches vorgesehen. Wobei dieses erste Jahr unter dem neuen Intendanten Pierre Audi sogar außer Mozart nur 20. und 21. Jahrhundert im Angebot hatte. Als Gastspiel gab es die bereits in Stuttgart, Brüssel und Berlin gezeigte, temperamentmäßig passende, weil düster-depressive Andrea-Breth-Inszenierung von Wolfgang Rihms „Jakob Lenz“. Die Kammeroper um den Sturm-und-Drang-verrückten Dichter erwies sich auch hier als fulminanter Amoklauf für Georg Nigl samt Ensemble Modern. Und auch wenn das atmosphärelose Grand Théâtre de Provence damit nicht zu füllen war, die Franzosen haben nicht sehr viel Breth gesehen. Problematischer war die hier traditionell gezeigte Uraufführung, wie meist, ebenfalls ein Kammermusikwerk, koproduzentenkompatibel, diversity- und pc-gerecht; außerdem gern für die jungen Interpreten aus der Akademie geeignet und im kleine Théâtre du Jeu de Paume geparkt. Eine laue Folge halbgare, schnell verdampfter Werke hatte solches Programmdenken zur Folge, und leider war es um die Ausgabe 2019 auch nicht besser bestellt. Obwohl die Idee für „Les Mille Endormies“ ziemlich schräg klang: 1000 hungerstreikende palästinensische Intifada-Gefangene stören den israelischen Ministerpräsidenten und sollen dauerschlafend aus dem Weg und den Schlagzeilen verschwinden. Die Kammeroper in hebräischer Sprache des aus Haïfa stammenden 36jährigen Adam Maor wurde vom Librettisten Yonatan Levy auch inszeniert.
Doch was eine freche Anti-Netanjahu-Operette hätte werden können, versickerte schnell in undramatischem Gelaber und den ewig gleichen Klangversatzstücken einer vertrockneten Moderne samt ein paar Ausflüge ins arabisch Folkloristische. Der Chef des Staatssicherheitsdienstes, ein Tenorbote und die Vertraute Nourit können zwischen zwei Liegestuhlreihen mit Schlafstatisten die Verwicklungen um das jetzt schlaflose jüdische Staatsvolk nicht entwirren, die werden immer uninteressanter und gänzlich banal zum Tönen gebracht. Zum Glück nur eine Stunde lang. Auch der ordentliche Einsatz des Luxemburgischen Ensembles United Instruments of Lucilin unter Elena Schwarz konnte da nichts optimieren.
Eine Überraschung hingegen war die dritte szenische Großproduktion, ebenfalls im sterilen Grand Théâtre. Ivo van Hove setzt ausgerechnet für den in seiner parolenhaften Kapitalismuskritik-trifft-Wilder-Westen-Haltung alt geworden geglaubten „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ wieder mal die leere Bühne, eine Green Screen, ein paar Podeste und Schminktische ein und erreicht doch eine soghafte Vergegenwärtigung der gern langwierigen Brecht/Weill-Oper. Die plötzlich rau wie prophetisch, wieder schräg und scharf wirkt. Denn Esa-Pekka Salonen und sein Londoner Philharmonia Orchestra geben dem Geschehen modernistischen Drive, satten Sound und den schiefen Kneipenton, den das braucht. Dazwischen schlängeln sich bachige Fugen, klingt es kirchenfeierlich, um dann gleich wieder vom Menschen zum Tier zu mutieren. Wie man sie bettet, so liegen hier die durchaus famosen Töne. Denen lediglich Mikroports für die Sänger fehlen, dann wäre alles in der abgemischten Balance noch punktgenauer, böser gekommen.
Wie ist und wo liegt Mahagonny heute? Gleicht es dem Schaufenster des Westens, wie es Joachim Herz mit spießigem Blick an der Komischen Oper in Ost-Berlin inszenierte? Oder regt es zur melancholischen Rückbesinnung auf vergangenes DDR-Sozialistenglück an, wie es Ruth Berghaus einst in Stuttgart heraufbeschwor? Und was ist mit der im ästhetischen Niemandsland angesiedelten, pseudopolitischen Vereinigungs-Ranschmeiße, die Günter Krämer für Hamburg und Berlin erdachte? Und ist nicht überhaupt dieses lehrstückhafte, süffig musikalisierte, doch allzu thesenartige Kapitalismus-Gleichnis, das sich die Amerika-Novizen Bertolt Brecht und Kurt Weill im Jahr 1930 in Leipzig zusammenreimten, ein veralteter, inzwischen nostalgischer, ja kulinarischer Totentanz längst als Irrtum der Geschichte entlarvter Lehrsätze?
Jedenfalls gewinnt die Geschichte nicht unbedingt an Sex, wenn man sie unabdingbar aktualisiert. Zu verschlissen wirkt dann Brechts eng fokussierter Ansatz, dass da, wo nur Geld Gott ist, erst das Fressen kommt und dann die Moral. Deshalb spielt van Hove in einem ästhetisch kahlen Niemandsland, kühl und abweisend. Umso unsympathischer wirken die Charaktere, die vorzüglich gecastet sind. Karita Mattila ist ein finnischer Eisberg von Witwe Begbick als nuttiger Spinnennetzstadt-Gründerin, die ihre Goldgräber nie mehr los lässt – , fies, mit abgrundtiefen Tönen, präsent und geldzählgierig. Alan Oke und Willard White unterstützen als Charaktersingschädel; auch Sean Panikkar, Thomas Oliemans und Peixin Chen haben ihre Starminuten als abgewrackte Glücksucher.
Wie zu RuPauls Drag Race zockeln Annette Dasch (Jenny) und ihre Lebendamen mit dem Rollköfferchen und echter Transe herein, im Dunkeln möchte man diesen Ungunstgewerblerinnen lieber nicht begegnen. Fressen, saufen, Huren, Boxen nicht vergessen, alles wird brav, aber gekonnt durchexerziert bis der die verflixte Zwischenfachtenorrolle des Jim Mahoney hervorragend meisternde Nikolai Shukoff zum Tod verurteilt ist und mit der gurrenden Dasch ein letztes Mal als verliebter Kranich schnäbelt. Es raucht und knallt, die Zivilgesellschaft probt (in Frankreich gerade nicht unbekannt) den Aufstand. Einiges geht zu Bruch, das gutgelaunte Orchester legt sich in die Forte-Kurve.
Am Ende sind aber vor allem die Illusionen von einem besseren Leben flöten. Und selbst die, die sich bereichert haben, sind und bleiben arme Würstchen. Mal sehen, was Aix 2020 zu bieten hat. Eine neue „Così“ mit Dmitri Tcherniakov und Thomas Hangelbrock sowie Barrie Kosky als Regisseur von Rimsky-Korsakows „Der goldene Hahn“ machen schon mal neugierig.
Der Beitrag Man bettet sich und liegt bequem: Eine erstaunlich packendes „Mahagonny“ und einen öde Schlafoper als Uraufführung schließen den Premierenreigen in Aix erschien zuerst auf Brugs Klassiker.