Studierstube, faustisch. Das funktioniert immer. Und am Ende ein nicht aufhören wollender Glitzerfolienregen. Mehr Glamour war selten im freilich nur noch halb vollen Grand Théâtre de Genève. Und dazwischen der selbst zwischen den distinguierten Helvetiern bollestolze Intendant Aviel Cahn. Der hat es geschickt gemacht. Welche Großwerke des 20 Jahrhunderts sind in der kleinen Opernschweiz noch nicht gegeben worden? Und er, selbst Zürcher, der das flämische Doppelhaus Antwerpen-Gent in den letzten zehn Jahren ganz ordentlich aufgemischt hat, startete jetzt in der Suisse Romande seine erste Spielzeit mit zwei kultigen Dinosauriern. Am Anfang steht Philip Glass’ und Robert Wilsons minimalistisches Monumentum „Einstein on the Beach“, von dem man sich 1976 ein neues Musiktheaterzeitalter erhofft hatte und das sich doch als meteoritengleicher Solitär erwiesen hat. Und an das Ende der Saison hat Cahn Olivier Messiaens transzendent-fluoreszierende Vogelheiligen-Legende „St. François d’Assise“ gesetzt. Lang und groß und spektakulär, Schweizer Erstaufführungen sind es zudem. Dazwischen liegen die Uraufführung von Christian Josts Oper „Reise der Hoffnung“ nach Xavier Kollers Oscar-prämiertem Film und eine von einer türkischen Exilautorin mit neuem Libretto versehene „Entführung aus dem Serail“. Da ist die Aufmerksamkeit sicher. Doch wieviel Zauber wohnte nun diesem Anfang inne? Musste die Fontäne im Genfer See verblassen?
Das nun nicht wirklich. Zwar hatte Aviel Cahn bereits fröhlich zum Kreativangriff auf die beiden anderen, international relevanten eidgenössischen Opernburgen in Zürich und Basel geblasen, denn Konkurrenz belebt ja das Geschäft. Er will das solipsistische Kulturleben der mondänen, aber auch kleinstädtischen Ansiedlung aufbrechen und durchmischen. Die Institution Oper soll durchlässiger und diverser werden. Es hatte vorab schon eine Clubbing Night im frisch renovierten Opernfoyer gegeben, und auch ein Einstein-Eis aus der blauen Box (Fior di Latte mit Zitronentopping) war ein hübscher Werbegag – am Premierenabend freilich nicht vorhanden. Ansonsten saß hier das üblich ältliche Genfer Großbürgertum plus ein paar jüngere Neugierige. Der Aufforderung, das immerhin vierstündig pausenlos mäandernde Spektakel selbst aus 50-sitzigen Reihen zwischendurch verlassen zu können, kamen dann doch gar nicht so wenige nach. Anders freilich als ich, der sich nach zwei Stunden ein paar Halbzeitluftschnapper auf der nächtlich frischen Place Neuve gönnte und wiederkehrte, ward das Groß der Flüchtenden nicht mehr gesehen.
Dabei ist das Bühnengeschehen immer sehr hübsch anzusehen und höchst professionell aufbereitet. So also sieht das aus, ohne das ikonografische Original-Bob-Wilson-Setting dessen diverse Wiederaufnahmen zuletzt 2014/15 noch einmal die internationale Festivalrunde gedreht hatten. Damals freilich hatte es schon alt und historisch gewirkt, der lullige Zauber war verflogen. Erneuerung tat Not. Doch plötzlich scheint Philipp Glass wieder einigermaßen angesagt. Gerade die frühe Operntrilogie der Porträts, zu der sich noch das indische Gandhi-Spektakel „Satyagraha“ (1980) und das altägyptische Pharaoneon-Epos „Akhnaten“ (1984) über den Sonnenanbeter Echnaton fügen, hat neuerlich Konjunktur. Und auch der abstrakte „Einstein“ ohne Sänger, nur mit einem Vokal- und Instrumentalensemble im Graben, er taucht wieder auf den Szenen auf.
In Genf ist Aviel Cahn damit frontal auf eine ganz neue Ästhetik zugegangen. Er hat dafür clever die Eventbehübschungstruppe des Italoschweizers Daniele Finzi Pasca engagiert. Der war schon für die Eröffnungszeremonien Olympischer Spiele zuständig, für kunterbunt-künstlichen Cirque du Soleil-Eskapismus und hat zuletzt in Vevey die hier wichtige Fête des Vignerons optisch neu angerührt. So eine Art Schweizer Fura dels Baus also, nur viel netter und beflissener. Trotzdem könnte sich die Mannschaft schnell in den auf solche Schlüsselreize mit gierigem Schnappen reagierenden globalen Opernbetrieb einspeisen lassen. Und Aviel Cahn ist immerhin der erste, der sie engagiert hat.
Vier Stunden darf man hier staunen uns sich freuen, ein wenig schlafen, im Sitzen dämmern sich zublubbern lassen von den irisierend einfachen, aber auch immer wieder irritierend, weil kaum merklich verschiebenden Glass-Klängen und –Patterns, die der nimmermüde Titus Engel mit größtmöglicher Präzision seinem aus Studierenden der Genfer Musikhochschule zusammengestellten Einstein-Ensemble entlockt. Und man hört befriedigt: Das lange, auch langweilende Opus kann auch von nicht Glass-geschulten Musikern bewältig und samt sein mal zwei-, mal viertaktigen Loops und simplen Tonwechseln durchgezählt werden. Frei und zwanglos schwingt das dahin, man lässt sich schwebend zufrieden mitttragen.
Auf der Bühne freilich ereignet sich nur ein saftmütiges optisches Wellness-Theater, Augenfutter der niedlichen, der besänftigenden Art, mit Tricks und Spielereien, als Fest der Farben und Formen. Zwei Damen, eine mit leuchtendem Lesebord, eine als Glitzerclown, sind vorwiegend für die sinnfreien Texte zuständig. Und wir schauen und staunen – wie über dem Formeln und auch eine Notenlinie an seine Tafel schreibenden Einstein das Bücherregal nach oben wächst; wie ein Fahrrad führerlos durch die Luft schwebt und Papierflieger Salti wagen; wie eine Meerjungfrau auf halber Höhe Kapriolen schlägt, wenn Einstein zwischen Liegestühlen endlich am Strand aufschlägt; wie auf Wagen gesteckte, zuckende Leuchtröhren immer neue Formationen bilden und die Farben wechseln, sich zur flackernden Tropfsteinhöhle fügen; wie bei Schattenspielen Figuren größer und kleiner werden; wie ein fein geputzter Schimmel graziös über die Bühne tappt und kreiselt; schließlich von ein paar „Carmen“-Toreros umwedelt; Und dann hebt auch noch eine Braut ab gen Bühnenhimmel.
Das alles wiederholt sich über die neun Szenen und fünf Knee Plays, die Intermedien, immer wieder, ist harmlos, aber nicht wirklich relevant. Instagramtaugliche Retorten-Poesie. Bonbonbuntes Licht, kaum Tanz – wie im Original von der gestrengen Lucinda Childs –, einfach nur unterhaltenden Arrangements von wenig Personenraffinesse, dafür immer wieder von Beifall unterbrochen. Minimalismus-Akrobaten, schöööön! Einmal darf eine Geigerin die klanglichen Endlosschleifen auf der Bühne vorführen, auch eine Solosängerin produziert sich minutenlang in Castafiore-Manier. Und am Ende dann ganz viel umherfliegende Schreibpapierblätter und Glitter. Sternestaub für guckmüde, irgendwie wolkig glückliche Augen und leere Hirne. Aber keinerlei politischen Anspruch, so wie es noch die Uraufführung mit ihren Bildern eines rassistischen Amerikas formulierte, über das man zu Gericht saß.
Aviel Kahn hat sein Event gehabt. Im opernmäßig immer noch etwas hinterherhinkenden Genf war das nicht schwer. Aber im Stagione-Haus Grand Théâtre war zur Eröffnungspremiere weder das Orchestre de la Suisse Romande im Graben, noch der Chor auf der Bühne, auch die Vokalisten hatten sich keinem wirklichen Vergleich zur stellen. Die eigentliche Bewährungsprobe der neuen Equipe kommt also erst noch, sie ist einigermaßen mutig, frech und offensiv gewählt: Verdis „Aida“
Der Beitrag Aviel Cahns Genfer Operneröffnung: Sinnfreier Wellness-Bilderstaub zum betörenden Dauerlullen in „Einstein on the Beach“ erschien zuerst auf Brugs Klassiker.