Mit dem Alter kommt die Oper. Das ist zumindest bei Frank Castorf so, der nach einer langen Auszeit seit seinem Basler „Otello“ 1998 erst 2013 im Musiktheater weitermachte, dann aber gleich mit dem „Ring“ in Bayreuth. Seither scheint er Sängerblut geleckt zu haben, denn ich schöner Regelmäßigkeit folgte danach Gounods „Faust“ in Stuttgart und „Aus einem Totenhaus“ von Leos Janacek an der Bayerischen Staatsoper. Und jetzt Verdis „La forza de destino“ in der Mailänder Zweitfassung an der Deutschen Oper Berlin, in der Stadt, in der er seit 1992 an der Volksbühne als Intendant wirkte und wütete und weiterhin regelmäßig inszeniert. Das aber scheint an der Charlottenburger Schnittmenge der nach wie vor mentalitätsmäßig geteilten Stadt einigermaßen vorbeigehuscht zu sein. Wie sonst wäre es zu verstehen, dass man sich, herausgefordert durch eines seiner bekanntesten Stilmittel, der interpolierten Fremdtext-Suada, so provozieren ließ, dass man sich mitten im vierten Akt eine mehrminütige, rüde und äußerst provinzielle Brüllorgie lieferte, nur weil da zwei der Sänger, die an der Stelle gar nichts zu suchen hatten, einen Text aus Curzio Malapartes Roman „Die Haut“ über die Befreiung Neapels durch die Amerikaner 1943 auf Englisch aufsagten? Was Castorf zudem brav in diversen Interviews via Lokalpresse angekündigt hatte. Doch das unaufgeklärte Opernpublikum tat ihm den Kleinklein-Skandal-Gefallen mit der ortüblichen Nöl-Vehemenz, nachdem man bis dahin über drei Stunden ziemlich durchgegähnt hatte.
Denn das ist leider der größte Vorwurf gegen den inzwischen 68-jährigen Großregisseur. Er langweilt sich offenbar selbst, verteilt aus dem Fundus seine reichhaltigen, einst innovativen Mittel und lässt es eben laufen. Zudem scheint er nicht wirklich musikalisch. Im „Ring“ hat es funktioniert – und auch wieder nicht: Visionäre Bilder und angeödete Passagen wechselten, sehr stark waren freilich Wagner und die visuelle Seite der sich beständig wandelnden, immer neue Winkel offenbarenden Drehbühne mit ihren Kompositarchitekturen sowie der Shabby Chic der Kostüme seines inzwischen beständigen Ausstatterteams Aleksandar Denic und Adriana Braga Peretzki. Beim „Faust“ war Castorf sowieso im Thema drin, die Textverweise zu Dreyfus und der Pariser Kommune funktionierten schlüssig. Beim „Totenhaus“ geht alles so schnell und gleichzeitig, dass seinen Literatur-Einblendungen auf den Wänden nicht weiter störten.
Doch die sowieso schon inhaltlich mäandernde, zerrissene, über Ländergrenzen und Zeitsprünge hüpfende „Forza“ mit ihrem holzschnitthaft typenartigen Personal, sie ist so nicht in den Griff zu kriegen. Zumal Denic diesmal die ersten anderthalb Stunden seine Drehbühne gerade einmal um 180 Grad verfährt, Gefechtsstände und eine naturalistische Barockkirchenfassade, später Sanitätszelte, einen Lastwagen plus die üblichen Holztreppen zeigt, und Braga Peretzkis übersexualisierte Fummel auch keinen Novitätswert mehr haben. Auch den Running-Gag einer erst als Montezuma-Diva im Glitzersambahöschen hinternwackelnden Transe als ewiges Opfer (Ronni Maciel als Außenseiter-Indio macht sich tapfer rezitierend zum Heiner Müllerschen „Engel der Verzweiflung“), die später Kolonialismus und Minderheitenverfolgung anklagt, hatte eben der Bayreuther „Tannhäuser“ viel überzeugender und integrativer vorgemacht.
Vom anfänglichen Hakenkreuz auf einer Rednertribüne für den Marchese von Calatrava (knorrig: Stephen Bronk) über Franco-Fahnen und einen Papp-Mussolini hinter der Kamera als Kinoreklame wird wieder viel Fascho-Klimbim aufgefahren, aber in den satirisch grellen Kriegsszenen der Preziosilla (sehr rhythmuskorrekt: Agunda Kulaeva) wagt dann das Volk im „Carmen“-Gewand höchstens ein statisches Flamencotänzchen. So harmlos hat man diese visionäre Verdi-Folie selten gesehen. Doch Chor und Solisten scheinen von jeder Regie alleingelassen, müssen selbst das Beste an Bühnenpräsenz draus machen.
Gute Typen sind der wenig gütige Fra Melitone (Marko Mimica singt das fein, aber ohne die gewohnt weiche Bassfülle) und der jugendlich attackierende Frau Melitone (mal kein Charakterbariton, sondern mit viriler Kraft: Misha Kiria). Markus Brück als solider Hausbariton reißt das mit vehementer Carlos-Garstigkeit ebenso wenig zu den Verdi-Sternen empor. Seine Bariton-Tenor-Duette muss er meist unter schwerem Videoscreen-Beschuss absolvieren, wo dann zwischen viel Kunstblut Verwundete katatonisch zucken. Wie man überhaupt diesmal von den Filmeinspielungen fast chronisch und ohne echten Mehrwert abgelenkt wird.
Doch in dieser schwer zu besetzendenden Oper müssen vor allem die beiden Hauptrollen besser besetzt sein – oder man lässt es. Auch die Oper Frankfurt in der stringent in ihrer Rassismus-Anklage antiamerikanischen Kratzer-Inszenierung hat das mit No-Names idealer hinbekommen. Immerhin kann der auftrumpfend laute, im Piano nur verquetschtes Säuseln produzierende Russell Tomas noch einmal zeigen, wie fehlbesetzt er in Salzburger Mozart-Partien war. Das Timbre ist aber nicht wirklich schön, er singt einförmig, phrasiert fad und lässt sich darstellerisch wenig abringen. So wie Maria José Siri, die eben eine solide B-Sängerin ist und bleibt, aber ohne vokale Imagination oder wirkliches Glänzen in der üppig sich ausspreizenden Stimme. Eher kontraproduktiv, wenn sie dann bei „Pace, Pace“ auch noch sinnlos Sandsäcke schleppen muss…
Die größte Bürde musikalisch ist aber der für den wegen Schulterschmerzen abhanden gekommene Paolo Carignani nun am Pult stehende Spanier Jordi Bernàcer. Der dirigiert so blockhaft abgekackt, dabei ohne Innenspannung, dass dieses Verdi-Schwergewicht schnell in sich zusammensackt. Lauter Einzelteile sind da zu hören kein Fluss, schöne Stellen, ohne Zusammenhalt. So werden der optische Einfallsarmut und das schlechte Licht (das nicht mal bei den Solistenvorhängen optimiert ist, nur noch evidenter.
Und, auch wir werden älter: An den genialen „Forza“-Vorgänger von Hans Neuenfels aus dem Jahr 1982, aber bis in die Ära Harms ein bebuhter Repertoirekracher wegen seines kirchenkritischer Bilderrätselfurors samt Panzersegnung und der damals traumschöne, glühend-ätherische Verdi-Linien spinnenden Julia Varady, an den denken wir angesichts dieser braven, spannungsarmen allzu Castorf-altersroutinierten Betrübnis nur mit noch mehr nostalgischer Traurigkeit zurück. Da kann sich der Regisseur noch so sehr im Triumph einer wieder geglückten Provokation im dann doch recht ärmlichen Buhstürmchen sonnen.
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