Verismo-Opern, das sind robuste Reißer, Stimmproviant für Sängerstars, Vokalfutter für Abonnenten. Nichts für den intellektuellen Hunger. Es müssen immer erst neugierige Regisseure kommen, die hinter Pappkulissen wie großen Gefühlen gemeinsam mit sensiblen Darstellern mehr entdecken wollen. Und immer stärker rückt dabei das unvermeidliche, das berühmtestes Zwillingspaar jener Gattung in den Deutungsfokus: Mascagnis „Cavalleria Rusticana“ und Leoncavallos „Bajazzo“. Wobei nicht zwangsläufig ein geistiger Zusammenhang konstruiert werden muss zwischen der erdig-melodiesatten Archaik einer „sizilianischen Bauernehre“ und dem fadenscheinigen, dabei impressionistisch farbsprühenden Vorstadttheater des zweiten Stücks, wo Commedia dell’arte in blutigen Ernst umschlägt. Doch es macht Sinn: Die unfreiwilligen Opernbrüder als durchgedachtes Doppel, das Musiktheater wie Emotion zu ihrem Recht kommen lassen. Das beginnt mit der Wahl der Reihenfolge und endet noch lange nicht mit der derselben Kulisse, in denen die doch so unterschiedlichen Werke sich spielen lassen. An der Deutschen Oper Berlin war jetzt die unaufdringlich sich wandelnde, in 14 Jahren gut gealterte David-Pountney-Produktion in hochmögender Repertoirebesetzung sehen. In Amsterdam bescherte Robert Carsen der Dutch National Opera einen süffig-klugen Spielzeitauftakt mit tollen Sängern und einem spektakulären Debüt: die georgische Mezzogranate Anita Rachvelishvili gab ihre erste, auflodernd intensive Santuzza als fantastisch singende Anna Magnani der Oper.
Das tat sie aber erst nach der Pause, denn es beginnt mit dem „Pagilacci“. Es mag dem Lebensalter des inzwischen als immer noch jugendlicher Regieveteran durchgehenden Robert Carsen anzurechnen sein, dass er sich in seinen Inszenierungen stetig mehr minimalisiert, dabei gern und oft über Schein und Sein, das Wesen des Theaters, die Gesetzmäßigkeiten der Bühnen nachdenkt. Und so verschränkt er auch knapp und klug die beiden tödlich endenden Eifersuchtsgeschichten von den Vorstadt-Komödianten und den sizilianischen Landleuten. Lokalkolorit ist ihm dabei nur sehnsuchtsvolle Beschwörung angesichts des nüchternen Nichts einer freilich alle Möglichkeiten der Illusion bietenden Bühne.
Als Prolog besingt diese samt der Künstler als Menschen der sämig auftrumpfende Roman Burdenko mit schön durchgebildetem Bariton. Ein stämmiger Mann in schwarzer Alltagskluft, der insgesamt drei Vorhänge samt Bühnenrahmen vorführt, das Spiel im Spiel immer mehr einschachtelt. Radu Boruzesku und Annemarie Woods liefern dafür nur allerknappesten Dekor und zeitlose Kleider, etwa drei Schminktische mit Lämpchen sowie Kleiderstangen als Symbol der Verwandlung. Die Spielertruppe bricht durch die Türen von draußen in den echten Theatersaal, die Bevölkerung erhebt sich als falsche Zuschauer aus den ersten Reihen und entert ihren eigentlichen Lebensort Bühne.
Sein „Vesti la giubba“ zelebriert Brandon Jovanovich alias Canio dann wieder vor geschlossenem Vorhang. Die unter Tränen lachende große Soloszene wird zur vokalen Erkundung des inneren Seins, an der ein gespannt-begeistertes Publikum teilnimmt. Wobei der Amerikaner mehr durch die Intensität seiner Gestaltung als durch seine problematische Höhe und seine fehlende Italianità beeindruckt. Ailyn Pérez ist ihm eine temperamentvoll-schnippische Nedda; ihre souverän gestaltete Vogelarie offenbart freilich auch angestrengte Spitzentöne. Ihre sinnliche Seite darf sie dann in den raffinierten Bodenverrenkungen mit dem halbnackt wie vokal gute Figur machenden Silvio Mattia Olivieris ausführlich ausstellen. Mit blonder Fusselperücke ausstaffiert, läuft Burdenko jetzt als weidwund verliebter Bühnenarbeiter Tonio über die Beleuchterbrücke des beständig die Perspektiven wechselnden Portals; das ist dann in der eigentlichen Theaterszene nur noch gemalt.
Vorher, im Intermezzo, hat der Bajazzo seine eigenen Kleider (die auch nur Kostüm sind) ausgezogen, und die gleichen für die nur gespielte Vorstellung noch einmal angezogen. Und nach einem wild grollenden Showdown mit blitzendem Messer werden wir dann wirklich mit zwei Leichen in die Pause entlassen. Diese stehen dann zum „Cavalleria rusticana“-Anfang wieder auf, jetzt ist die Bühne ganz leer, hinten sehen wir uns selbst als Spiegelbild. Der eiserne Vorhang verschließt das, wie auch beim zweiten Intermezzo die Spielfläche. Die hat sich inzwischen in eine Backstage-Arena verwandelt, die „Bauernehre“ wird nur geprobt, ist auch ein Stück im Stück.
Wieder ziehen sich alle an und aus, wechseln verwirrend die Identitäten. Der Chor spielt Landleute, seine echte Dirigentin Ching-Lien Wu leitet die gestellte Sitzprobe der Ostermesse. Santuzza mit Tasche und Mantel scheint von außen zu kommen. Anita Rachvelishvili läuft sich langsam warm, lullt ein mit ihrer üppigen, zurückgenommenen, dunkel glühenden Stimme, die freilich gewaltig ausholen kann. Ein weiblicher Vulkan, den man nicht reizen sollte, der lodert, aber nie ordinär ausbricht. Seit den Tagen der Simmionato, Rysanek oder Cossotto hat man das nicht mehr so farbenreich schön und weiblich verletzlich, aber auch so verhalten wütend gehört. Eine tief gekränkte Frau tut, was sie tun muss. Zu Recht wird Anita Rachvelishvili nach der Vorstellung mit dem Jahrespreis des Preises der deutschen Schallplattenkritik für ihre erste Solo-CD ausgezeichnet.
Auch hier holt uns Robert Carsen ganz einfach und natürlich ins sich dramatisch zuspitzende Spiel. Die Mama Lucia der einmal nicht als derbe Edel-Nebenrolle glänzenden, diesmal eleganten Elena Zilio ist die Impresaria, der selbstgerechte Alfio des schnell auffahrenden, dröhnigen Gevorg Hakobyan, die pralle, billige Lola (Rihab Chaieb) mit dem Geburtstagskuchen für den Mann, dem sie längst untreu ist, sie alle sind Protagonisten – in welchem Stück? Dem ihren oder dem gespielten? Brian Jagde ist jedenfalls ein unbekümmerten Turridu mit Rucksack, der sich um nichts schert, verantwortungslos mit allem flirtet und schönste Tenortöne hochtrompetet.
Die meiste Vorstellungen der Serie dirigierte der für den kranken Mark Elder eingesprungene designierte Amsterdamer Musikchef Lorenzo Viotti. Heute ist Aldert Vermeulen sein farbarmer, langsam anlaufender, nicht immer reaktionsschneller Klangverwalter am Pult des Nederlands Philharmonisch Orchest. Zwischen einer Menschenmasse schält sich nun das blutige Finale aus der Anonymität. Wieder ist die Bühne leer, den toten Turridu sehen wir nicht. Der rote Vorhang schließt sich und fällt herab, dahinter ist – Leere. La commedia è finita!
In Berlin hingegen spielt man das gemischte Doppel in der üblichen Reihenfolge und bricht es doch auf, durchwirkt es mit Beziehungen. „Cavalleria rusticana“ hat sich samt Mama Lucias Imbissbude unter einer Autobahnbrücke geschäftlich eingerichtet: eine von vielen Bauruinen in der versteppten Landschaft, durch die die Bauern zum Ostergottesdienst ihre Heiligen schleppen. David Pountney lässt hier den Realismus glühen. So vehement, dass man misstrauisch wird. Als nach der Pause immer noch die Mamma an der Leiche ihres von der Brücke geworfenen Sohnes kniet, wird klar: Das ist ein Spiel mit der Realität. Pirandello-Ambivalenz offenbart sich, wenn die Kulissen davongezogen werden und die umgedrehte Autobahn als nackter Portalrahmen für die vorfahrenden „Bajazzo“-Komödianten dient.
Jetzt sucht der zweite Tenor seinen Autor. Und findet eine untreue Ehefrau, die ihm Paroli bietet. Statt ihres egozentrischen Gatten bezüngelt sie einen verdrucksten Sandalenträger. Das Duett mit dem hinreißend verschüchterten Silvio scheint der einzig wahrhaftige Moment an diesem Abend der gebrochenen Illusion. Die Chöre fabrizieren präzise La-Óla-Figuren während sie Zeugen werden, wie sich die Bühnenfiguren ganz echt abstechen, um dann ins falsche Applauslicht zu schreiten. Pountney spielt lässig mit den Theaterebenen und lässt Raum für saftige Italianitá.
Die in dieser weit überdurchschnittlichen, von Paolo Arrivabeni mit lautsatt rumpelndem Temperament aufgeschäumten 38. Repertoireaufführung schön ausmusziert wird. Roberto Alagna ist ein idomatisch vorzüglicher, sich klug konzentrierender Turridu wie ein kontrolliert außer sich geratender Canio mit Schluchzern und sehr viel Charisma. Der Ermordete wird zum Mörder, das Opfer ein Täter. Seine echte Ehefrau ist eine zu Herzen gehende Aleksandra Kurzak als Nedda, musikalisch, verspielt, freundlich im Spiel mit den Vogelstangen schwingenden Kindern, Canio effektvoll trotzend. Vorher waren Eva-Maria Westbroeck mit proletarischem Charme eine vibratosatt weibliche Santuzza, Ronnita Miller als Mama Lucia die Mezzoruhe selbst. Mit großer Eleganz und der Abgeklärtheit des erfahrenen Sängers hält sich Carlos Álvarez mit seinem markant-biegsamen Bariton als Tonio zu großer Klangform auf. Rodrigo Esteves ist ein geschmackvoller Alfio, auch der Lyriker Samuel Dale Johnson als Silvio kann mit den berühmten Profis mithalten.
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