Hatte Ferruccio Busoni Recht? Er meinte einst, ein ganzes Leben reiche nicht aus, um nur eine Klaviersonate von Ludwig van Beethoven zu erfassen. Das mögen wir für übertrieben halten. Aber es ist durchaus nicht von schlechten Tasteneltern, wenn der gerade mal 32-jährige Deutschrusse Igor Levit jetzt alle 32 Sonaten auf 9-Sony-CDs vorlegt. Auch wenn er für die letzten beiden CDs schon 2013 in die längst veröffentlichte Vorlage gegangen ist. Der Output mutet immer noch mächtig an. Levit ist also 32, Beethoven würde nächste Jahr 250. Levit traut sich also was. An Mut hat es ihm nie gemangelt. Auch nicht an fordernder Frechheit wie frühreif künstlerischem Potential. Und überhaupt: Man wächst an Herausforderungen. Im Klavierrepertoire gibt es davon ja jede Menge. Und auch Alfred Brendel oder Friedrich Gulda haben „das Neue Testament des Klaviers“ (im Gegensatz, zum „Alten“, dem Wohltemperierten Klavier Bachs) in ähnlichem alter erstmals zyklisch auf Langspielplatten gebannt. Also erst recht ein Grund für Igor Levit, da vorzupreschen. Aber der Hauptgrund ist natürlich, dass ihn mit Beethovens Klangkosmos seit frühester Jugend enorm viel verbindet, und dass er schon lange eine Vielzahl der Sonaten spielt. Die Hammerklavier- oder die Waldstein-Sonate könnte man fast schon sein Morgen- und Abendgebet nennen. Betet er überhaupt? Er versucht und ihm gelingt ein abgeklärter, trotzdem aufregender Beethoven-Blick. Er ist bisweilen extrem, aber nicht mutwillig. Er walkt die Noten ordentlich durch, aber er tut ihnen nie Gewalt an. Er gibt sich nüchtern, reflektierend, emphatisch und intellektuell. Es ist ein Versuch, immer das Ganze im Blick zu haben, einen Bogen zu spannen, aber trotzdem stets aus dem Moment heraus zu musizieren. Edwin Fischer nennt Levit als fernes Vorbild, das sich auch Freiheiten herausnimmt. So gelingt ein – vorläufiges – Resümee eines trotz seiner Jugend bedeutenden Künstlers, der kämpferisch eine Meinung hat, aber sich auch ganz altmodisch mit großer, wichtiger Musik beschäftigt. Beethoven war politisch, Levit ist es auch. Aber hier wird – jenseits aller Tagsnews und Befindlichkeiten – ein Werkkorpus abstrakt analysiert, eine Lebensleistung nacherzählt, die die Geschichte des Klavier beeinflusst hat und noch heute gültig ist. So wie diese wache, intellektuelle, aber auch gefühlvolle Interpretation, die erstaunlicherweise gefestigte Balance und strenge Heiterkeit ohne jeden schnappatmenden Zeitgeist ausstrahlt. Da ist vieles sehr überlegt, manches spontan. Doch man hört hier einen anderen Igor Levit, als den, der sich deutlich auf Twitter mitteilt, kein Podium auslässt, um auch seine Botschaften jenseits der Musik zu vermitteln.
Ludwig van Beethoven: Die Klaviersonaten. Igor Levit (Sony Classical)
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