Eingesargt. Weggesperrt. Diese Kisten mit den eleganten Magnetverschlüssen, sie laden zum Hören, Umblättern und Schmökern ein, die Manufaktum-Abteilung unter den CD-Boxen. Audiophil, exklusiv, wertig. Made by Berliner Philharmoniker, gespielt, konzipiert, vertrieben. Super Weihnachtspräsente – auch für einen selbst. Die beiden jüngsten, in diesem Jahr erschienen Boxen, sie wurden ganz unterschiedlich befüllt, mit sehr altem Furtwängler und jüngerem Anton Bruckner. Die erste Kiste enthält kontaminiertes, historisches Material mit einer bewegten Geschichte aus der dunkelsten Epoche des 20. Jahrhunderts: die übrig geblieben, vom Reichsrundfunk mitgeschnittenen Konzerte, die der Dirigent und Philharmoniker-Chef Wilhelm Furtwängler zwischen 1939 und 1945 in Berlin mit den Orchester gemacht hat. Hier sind sie zum ersten Mal vollständig veröffentlicht und High-End-aufgearbeitet, zudem klug kommentiert und eingeordnet. Das ist auch nötig, denn als beispielsweise die 5. Beethoven-Sinfonie in der Alten Philharmonie an der Bernburger Straße dokumentiert wurde, da war der 2. Weltkrieg zwei Wochen alt. Diese Versionen sind fehlerhaft menschlich, von heutiger Virtuosität und Brillanz keine Spur, aber sie sind herausragende Zeitdokumente. Hier atmet man über die Musik hinaus gehende Dramatik, wenn das Orchester im Bombenalarm Mozart spielt. Und womöglich später Hitler auf seinem ihm 1944 zum Geburtstag geschenkten Magnetophon nachhörte, so wie heute digital die Nachgeborenen. Selbst nachdem die Philharmonie am 30. Januar 1944 bei einem zerstört wurde, spielten die Philharmoniker weiter vor Mikrophonen. Das letzte Mal vor Kriegsende führte Furtwängler am 23. Januar 1945 im Admiralspalast sein Orchester. Nach dem Bombenalarm gab es Brahms 1. Sinfonie. Insgesamt 21 Konzertprogramme wurden damals mitgeschnitten, kunstsinnigen russischen Offizieren waren sie offenbar so teuer, dass die Bänder konfisziert und nach Moskau transportiert wurden. Bis in die Neunziger blieben sie dort. Und jetzt wurden sie als eine Art untergegangenes, weil sehr viel freieres und weniger partiturgläubiges Klassikverständnis der alten Schule einem Facelifting unterzogen. Auf 22 CDs gibt es hier Musik von Händel, Gluck, Beethoven, Mozart, Weber, Schubert, Schumann, Brahms, Bruckner, Ravel, Strauss, Wagner, Sibelius, Pepping und anderen zu hören.
Nur Bruckner, alle Neune, sind hingegen auf ebenso viele Dirigentenschultern verteilt. Die Maßgabe, Aufnahmen aus den letzten 10 Jahren, als die Digital Konzert Hall und damit auch die Videoaufzeichnung der philharmonischen Konzerte Standard wurde. Das Ergebnis ist ein interessanter, aber auch ein gemischter Beutel mit Sternstunden und wenig inspirierter Routine. Man erlebt acht Dirigenten, große Alte, abgetreten wie Bernard Haitink (der zweimal darf), Seiji Ozawa oder der eben verstorbene Mariss Jansons. Einen faden Zubin Mehta, das Suchen der Mittelalten wie Christian Thielemann oder – besonders persönlichkeitsstark – Paavo Järvi. Simon Rattle ist mit der vervollständigten Neunten dabei, und alle überstrahlt Nestor Herbert Blomstedt.
Wilhelm Furtwängler: The Radio Recordings 1939 – 1945; Anton Bruckner: Sinfonien 1-9, Ozawa, Järvi, Blomstedt, Haitink, Jansons, Thielemann, Mehta, Rattle, Berliner Philharmoniker (Berliner Philharmoniker)
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