Die Partitur auf einem sehr hochgeschobenen Ständer fast auf Brusthöhe abgelegt, den Blick konzentriert zu den tiefen Streichern, deren markantes Marschmotiv körperlich, ja aggressiv erklingt. So beginnt ein hochkonzentrierter, trotzdem freudvoll entspannt wirkender Andris Nelsons beim Berliner Musikfest am eigens mitgebrachten Pult des Boston Symphony Orchestra Gustav Mahlers 6. Sinfonie. Es ist die vierte Aufführung des monumentalen Werkes während der ersten gemeinsamen europäischen Festival-Tournee des jungen Letten mit seinem Ostküsten-Toporchester, dem er seit einem Jahr vorsteht. Die Philharmonie, ihm bestens vertraut von vielen Konzerten nicht nur mit dem Hausorchester, das ihn glückerweise für zu jung und noch nicht ausgereift erachtete für seinen Chefposten, ist nun die letzte Station der Bostoner.
Und es wird ein gutes Konzert. Andris Nelsons hat alles im Griff, deswegen kann er loslassen, muss nicht an den Noten noch an den Musikern kleben. Und dieses wunderbar kultivierte Orchester, das eine lange Durststrecke in den letzten Ozawa-Jahren und der gesamten Levine-Periode hinter sich hat, spielt freudvoll, zupackend und sehr ausgeglichen. Nach dem heftigen Beginn wird Nelsons’ schnell entspannter, dabei akribisch, dem Klangwundern dieser Musik auf der Spur. Er betont die Solomomente, aber die sind als hell strahlenden Klanginseln immer eingebunden in das oftmals heftig brodelne Tutti, mit seinen weit gespreizten akustischen Möglichkeiten sinfonischer Landschaftsgestaltung – von den von ferne und nah bimmelnden Herdenglocken bis zum diesmal eher stumpfen Hammerschlag im Finale.
Andris Nelsons ist ein großartiger Erzähler, im grotesken, aber nie grellen Scherzo, mit seine Tanzrhythmen ebenso wie im zart sich ausbreitenden Andante, dem ruhevollen Dur-Moment in dieser oft störrischen a-moll-Dürsternis, und im langen, mäandernden, sich nie verlierenden Finale. Man folgt gespannt hörend, weil der Anführer einem den Pfad ebnet und genau weiß, wo er ankommen wird. Nach dem Konzert gefragt, was er Mittwoch mache, überlegt er glaubhaft und sagt: “Ausspannen zu Hause in Riga!” Also vielleicht doch keine Präsentation als neuer Chefdirigent und Chailly-Nachfolger inLeipzig? Den Bostonern und ihm selbst wäre es zu wünschen.
Mahler-Lektionen, gleich dreifach. Das ist das Schöne an einem solchen Orchesterfestival: Alles kommt geballt. Etwa mit dem Mahler-Schwerpunkt gleich zum Beginn. 6. 7. und 9. Sinfonie in zwei Tagen! Bei der Siebten mit dem Konzerthausorchester unter Iván Fischer musste ich passen. Aber die Neunte unter Zubin Mehta und dem Israel Philharmonic Orchestra, die gelingt überwältigend. Wo die Bostoner Musiker vom Repertoire her breit aufgestellt sind, mit dem neuen Chef am Anfang einer hoffentlich langen, höchstwahrscheinlich aufregenden Musikreise stehen, ist es bei den Israelis bei dieser Musik eine existenzielle Angelegenheit. Mahler liegt diesen Instrumentalisten nicht erst seit Leonard Bernsteins Lektionen einfach im Blut.
2017 werden es 40 Jahre sein, dass der indische Parse Mehta (sein Freund Daniel Barenboim sitzt auch im Saal) zum Chefdirigent es IPO wurde. Und 2016 wird der wegen einer Knieoperation i sitzen dirigierende Mehta 80 Jahre alt. Es muss nichts mehr beweisen. Gegen Routine ist er freilich auch nicht gefeit. Doch diese Sinfonie scheint ihm und dem Orchester Bekenntnis. Sie brauchen nichts ausstellen, sie musizieren einfach – als Musikanten, im besten, hier böhmisch-österreichischen Sinne. Es rührt, wie viel altes Klangverständnis in diesem eigentlich heterogenen, immer noch aus Immigranten (augenblicklich vielen russischen) zusammengesetzten Orchester zu hören ist, ein betörender Mischklang macht sich breit. Das ist niemals supergenau, eher ein wenig Kaffeehaus-g’schlampert, aber deshalb vielleicht so echt? Kein polierter, in seiner Dramatik mitreißender Mahler, eher in seiner zarten Direktheit, in seinem unmittelbaren Verständnis unmittelbar ergreifend. Diese Neunte, bis hin zu den fern verschwebenden Streichern, den Celli im Besonderen, sie ist ein melancholisch-loslassendes Singen und Schwingen, das die Philharmonie vollkommen erfüllt.
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