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Andris Nelsons: Boston und Leipzig müssen ihn sich jetzt teilen

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Foto: Marco Borggreve

Foto: Marco Borggreve

Mit der (nicht ganz unerwarteten) Bekanntgabe von Andris Nelsons als 21. Gewandhauskapellmeister und Nachfolger von Ricardo Chailly ab 2017 ist exemplarisch zu erleben, wie man aus Niederlagen einen Sieg zu machen versucht. Denn mit Nelsons, der ebenfalls das Boston Symphony Orchstera leitet, haben nicht nur zwei exzellente Orchester ihr Alleinstellungsmerkmal verloren, ein überbeschäftigter Dirigent wird überall das Gleiche spielen – das allerdings gibt man dann als strategische Allianz und großes, Kontinente übergreifendes Gemeinschaftsprojekt aus.

Dabei schien doch alles so gut in Boston: Da hatte das Symphony Orchestra nach langen Jahren der Lethargie unter Seiji Ozawa und James Levine mit dem heute immer noch erst 36-jährigen Letten einen Wunschnachfolger gefunden. Und als an diesem nun auch noch in zwei Wahlgängen der Kelch als neuer Chef der Berliner Philharmoniker vorbeiging, konnte man eigentlich aufatmen. Eine Partnerschaft mit der Deutschen Grammophon für die Bandübernahme eines Schostakowitsch-Zykluses plus CDs beim orchestereigenen Label soll die mediale Präsenz des Traditionsklangkörpers wieder steigern, ansonsten würde man sich auf den Chef konzentrieren; die eben abgeschlossene Einstandstournee bei den prestigeträchtigen europäischen Festivals ist allerorten beifällig aufgenommen worden.

Die steifen Mienen der Boston-Verantwortlichen hinter der Bühne der Berliner Philharmonie sprachen freilich bereits am Wochenende eine andere Sprache, und ab jetzt ist es offiziell. Man wird sich den eben eroberten Chef schon wieder teilen müssen. Dabei ist der weiterhin nicht schlecht unterwegs: Engste und regelmäßige Engagements verbinden ihn mit den Berliner wie Wiener Philharmonikern, dem Concertgebouw Orchest und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Außerdem wäre es ein Gebot der Höflichkeit, dann und wann auch wieder bei seinem ersten internationalen Klangkörper, dem City of Birmingham Orchestra, vorbei zuschauen, das er im Sommer verlassen hatte – angeblich aus Zeitgründen. Und dann gibt es da auch noch seine Liebe zu Oper, der Nelsons mindestens mit einem Projekt im Jahr frönen will – auch schon um seine Frau, die Sopranistin Kristine Opolais und die gemeinsame Tochter Adriana öfter zu sehen, mit denen er in Riga und München lebt.

Nun wird Andris Nelsons also den Weg vieler seiner Vorgänger einschlagen, als transatlantischer Supermaestro, rastlos jetsettend und wohl überall ähnliche Programme repetierend, weil für zusätzliches Partiturstudium kaum mehr Zeit ist. Man dachte eigentlich, deren Zeit sei vorbei. Schon jetzt hat man ein wenig genug von Nelsons’ ewigen Strauss-Tondichtungen…Bis 2022 läuft sein eben verlängerter Vertrag in Boston, auf zunächst fünf Jahre hat er sich ab 2017 in Leipzig verpflichtet. Die beiden Orchester müssen ihn sich aber zusätzlich mit den Bayreuther Festspielen teilen, wo er ab 2016 allsommerlich (und eigentlich auf fünf Jahre) den „Parsifal“ dirigieren wird. Dazwischen geflochten werden müssen die Termine von Tanglewood, dem größten Klassiksommerfestival der USA, das vom Boston Symphony Orchestra veranstaltet wird, der Festival-Tour der Bostoner und der Saisoneröffnung in Leipzig Ende August. Zwei bedeutende Klangkörper werden zudem um die besten Tourdaten ihres Chefs für Asien, Amerika bzw. Europa rangeln, für Nelsons besteht die Gefahr des Ausbrennens wie der Überpräsenz. Denn auch er ist längt nicht fertig und ausgereift, er braucht nach wie vor Zeit, sich geistig zu entwickeln, auch sich auszuruhen, einfach: Mensch zu sein.

Warum also muss das sein? Ist es das Geld, die Ruhmsucht, das ihn nicht aufhalten könnende Management? Gibt es wirklich so wenige Dirigenten seiner Altersklasse, dass alle nur ihn wollen? Immerhin war man in Luzern so vernünftig, nicht auch noch auf dem im Sommer völlig überbuchten Nelsons für das Festival Orchestra zu setzen. Dorthin geht jetzt sein Leipziger Vorgänger Riccardo Chailly, der sich auf die Schweiz und die Arbeit an der Mailänder Scala konzentrieren wird. Und die Berliner Philharmoniker haben sich zu Recht für Kirill Petrenko entschieden, der nach einer Übergangszeit mit der Bayerischen Staatsoper kein anderes zusätzliches Orchester annehmen wird. Werden sich also bald wieder die Absagen des Andris Nelsons häufen? Wird er wieder wie ein Jojo zu- und abnehmen?

Das Gewandhausorchester hat zwar (auch wegen Riccardo Chaillys grandioser Aufbauarbeit) seine Attraktivität unter Beweis gestellt, das Boston Symphony Orchestra aber hat eine heftige Niederlage erlitten. Deshalb wohl hat man, alle Lippenbekenntnissen über eine künftige Partnerschaft zum Trotz, die Pressekonferenz der Leipziger geleackt und die deutschen Journalisten düpiert: bereits 50 Minuten vor der Bekanntgabe an der Pleiße war auf der Webseite der „New York Times“ die Nelsons-Ernennung als Fakt und mit allen von den Bostonern zugelieferten Hintergründen zu lesen. Zusammenarbeit auf Augenhöhe sieht anders aus: Die Bostoner wollten wenigsten die an diesem Tag die Nachrichtenoberhoheit behalten.

Da wirkt dann das von allen Pressestellen hinterhergeschossene Projekt einer nunmehrigen Zusammenarbeit aufgrund der historischen Bindung zwischen beiden Orchestern unter einem zu teilenden Chef eigentlich nur noch wie Camouflage über die Enttäuschung, lediglich Spielball der Nelsons-Interessen zu sein. Trotzdem säuselt es friedfertig davon, „das Erbe und die Stärken beider Orchester zu vereinen und zu erkunden“. Das heißt, Nelsons wird an beiden Orten ein gemeinsames Auftragswerk uraufführen, den Anfang macht natürlich der unvermeidliche Jörg Widmann. Ausgewählte Mitglieder der Dirigenten-Akademie des Tanglewood Music Centre sollen die Gelegenheit erhalten, Andris Nelsons bei seiner Arbeit zu assistieren, wenn er beim Gewandhausorchester arbeitet. Musiker des BSO werden außerdem in Musikvermittlungsprojekten des Gewandhausorchesters partizipieren. Die beiden Orchester werden je eine Konzertwoche gestalten, in der sie Werke aus dem Kernrepertoire des jeweils anderen Ensembles aufs Programm setzen.

Die Orchesterkonzerte werden flankiert von Kammermusik, Vorträgen, Diskussionen und Ausstellungen mit dem Ziel, den Blick auf die musikalische Entwicklung des Partnerorchesters über die Grenzen hinweg zu weiten. Die Kooperation umfasst Gastspiele der Orchester im jeweils anderen Land, damit das jeweilige Publikum die Partnerschaft aus erster Hand erleben kann. Dieser Teil der Kooperation beginnt am 5. Mai 2016, wenn das Boston Symphony Orchestra erstmals in seiner Geschichte im Gewandhaus gastiert. Geplant ist außerdem der Austausch von Musikern zwischen den beiden Orchestern. Als musikalischer Kurator des Projekts wird zudem Christoph Wolff eingebunden, der von 2001 bis 2013 Direktor des Leipziger Bach-Archivs war und unter anderem an der Harvard-Universität in Cambridge, Massachusetts, lehrt.

Wieviel spannender wäre freilich diese in der Tat einzigartige Partnerschaft gewesen, wenn man sie mit zwei Chefdirigenten hätte beschließen können, deren unterschiedliche Handschriften und Ansichten dem Projekt erst die wirkliche Würze verliehen hätten. Alle sind jetzt natürlich begeistert und freuen sich. Aber eigentlich ist das nicht unbedingt ein glücklicher Tag für die beiden Orchester.

 

 

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