Eigentlich sieht das noch viel älter aus als 37 Jahre – und es hört sich ebenso an. Als letztes neues Repertoire-Werk der Spielzeit 2015/16 hat die Met John Dexters „Entführung aus dem Serail“ von 1979 aus der Lagerkiste geholt. Extra für James Levine, der damit seine, wie man nun seit einer Woche weiß, letzte Wiederaufnahme als Musikdirektor des Hauses dirigiert. Als nostalgisch gemütvoller Trip in die mozärtliche Vergangenheit. Der hier in seiner 45. Spielzeit agierende, parkinsonkranke, im Rollstuhl sitzende Levine ist schon längst im Graben, wenn man auf seinen Platz geht. Doch kurz vor Beginn wird er samt seinem Hubstuhl auf Position „unsichtbar“ heruntergefahren, um dann zum Dirigentenapplaus wieder aufzutauchen. Die Schweinwerfer lassen seinen Haarkranz wie eine Gloriole erstrahlen, er dreht sich, grinst buddhagleich ins Auditorium. Der Applaus ist warm und lang und wiederholt sich ritualhaft nach jeder der zwei Pausen. Denn alle wissen: Das sind Levines Momente. Beim hier notorisch kurzen Finalbeifall wird er nicht auf der dann im Fokus stehenden Bühne erscheinen.
Mit der an der Met ungeliebten, wohlmöglich auch in der monströsen Goldkiste ungeeigneten „Entführung“ ins Saisonfinale zu gehen, ist so eine typische, wegen ihrer Eigenwilligkeit schon wieder sympathische Levine-Entscheidung. Zum einem, weil er Mozart liebt, auch wenn sich ein solches Werk (wie nächste Saison wohl auch der „Idomeneo“) hier nur schwierig verkauft. Die „Entführung“ wurde erst 1946 an der Met für fünf Aufführungen gespielt, dann erschien sie wieder mit dieser Produktion; damals immerhin von Nicolai Gedda, Edda Moser und Kurt Moll gesungen.
Diese wiederum wurde inszeniert von dem Engländer John Dexter, von 1974-84 so etwas wie der Chefregisseur des Hauses und somit ein enger künstlerischer Gefährte des jungen Levine, der 1976 Musikdirektor wurde. Von Dexters 14 für die Metropolitan Opera entstandenen Produktionen sind noch „Billy Budd“ und „Dialoge der Karmeliterinnen“ vorhanden, die „Entführung“ wurde 2008 zuletzt gespielt. Mit ihren zartflächigen, signalfarbig bemalten Kulissen von Jocelyn Herbert, die einerseits türkischen Miniaturen nachempfunden scheinen, zum anderen die Dekorationen David Hockneys vorwegnehmen, mit dem Dexter hier in den Achtzigern zwei berühmte Triple-Bills mit französischen Einaktern und Strawinsky-Werken herausbrachte, wirkt dieses in vorbildlichem Deutsch gespielte Singspiel aus der Zeit gefallen märchenhaft, füllt aber gleichzeitig die Riesenbühne sehr tricky mit ganz wenig Aufwand.
Dexter ist 1990 gestorben, Herbert 2003, sie sind also nicht mehr zur Verantwortung zu ziehen. Für eine orientalische Fantasmagorie, bei der sich keiner nach politisch korrektem Umgang mit Sklaven oder bösen Muslimen zu fragen traut, dabei ein ziemlich vitales Museumstück, in dem mit viel aufgepumpt sich präsentierender Muckistatisterie zupackend volkstümlich Komödie gespielt wird. Das naturgemäß nicht volle Haus ist trotzdem voll dabei, die Menschen lachen oft und kräftig. Ein fast unschuldiger Eskapismus macht sie da breit, deshalb in seiner ostentativen Historizität fast schon querständig und mutig; weil man ihn selbst im Opernheute nicht mehr für möglich halten würde, der aber trotzdem auch zur DNA dieses Hauses gehört – viel mehr als die anderswo ausprobierten, nie wirklich wagemutigen „Neuinszenierungen“, die etwa in der nächsten Spielzeit fünf Sechstel der Met-Premieren ausmachen.
Man staunt und ist begeistert. Von so viel abgefeimter Naivität, von gutem Handwerk, vor allem aber von der Sorgfalt der Wiedergabe. Natürlich ist Levines weichgdimmert, trotzdem kontrastreich geschliffener Mozart herrlich altmodisch, Spieldosenmechanik, die orchestral perfekt und funkelnd abschnurrt. Der größtmögliche Kontrast etwa zu René Jacobs’ aufgeraut-dramatisierter CD-Neueinspielung und deshalb als in sich stimmiges, authentische Korrektiv aus einer anderen Epoche so hörenswert. Es gibt eben nicht nur eine Mozart-Möglichkeit. Man muss die Alternativen aber erst einmal können.
Und an diesem Abend können sie es alle. Als deutsche Sprachleuchttürme hat sich Levine neben dem als traditioneller Bassbuffo sein Osmin-Werk ein wenig behäbig, aber auf den komischen Punkt bringenden Hans-Peter König seinen alten Assistenten-Buddy Matthias von Stegmann aus Bayreuther Hügeltagen wiedergeholt. Der gibt einen würdevoll minimalistischen Pascha Selim mit Puschelfeder am Turban. Kein Gedanke, dass der sonst auch für die frechen deutschen „Simpsons“-Dialoge zuständig ist.
Dazu gibt es ein vollgültiges Quartett jüngerer Mozartsänger , die ihre hochkomplexen, dabei immer spielerisch wirken sollenden Vokalaufgaben hinreißend bewältigen; wenngleich bei manchmal leicht gequält klingenden Tönen und etwas ausfransenden Linien sofort wieder klar wird, wie spezifisch schwer gerade in der „Entführung“ Mozart jede Partie geraten ist. Die Russin Albina Shagimuratova hat einen geläufigen Sopran mit Dramakraft, die jede ihrer drei Arien zum technischen Kabinettstück werden lassen. Die püppchenhafte Koreanerin Kathleen Kim als soubrettensouverän quietschende Blonde scheint eine asiatische Kammerkätzchen-Variante von Reri Grist. Die beiden amerikanischen Tenöre Paul Appleby (Belmonte, mit allen vier Arien) und Brenton Ryan (Pedrillo) haben zwar wenig Timbre-Individualität, aber alerte Fähigkeiten im Lyrischen wie Buffonesken.
So erlebt man eine perfekt wiederbelebte Mozart-Antiquität, die schon in den Fifties nicht anders ausgesehen und geklungen hätte. Spitze und Schnörkel von Gestern für einen Retro-Abend ins Heute gerettet. Molto simpatico. Denn die nächste, Köpfe rollen lassende IS-Variante kommt bestimmt.
Der Beitrag Met 4: Orientalischer Nostalgietrip in die jüngere Mozart-Vergangenheit erschien zuerst auf Brugs Klassiker.