Der Ort hätte nicht besser gewählt sein können. Erst war man bei zartstrahlendem venezianischem Frühsommerwetter die fünf Vaporetto-Minuten vom Markusplatz bis zur Insel San Giorgio Maggiore samt Palladio-Kirche und Benediktinerkloster übergesetzt. Dann durchschritt man den ersten Kreuzgang. Hier residiert seit Jahrzehnten die für mit der Lagune verbundene Kunst und Kultur sich stark machende Fondazione Cini. Die fördert unter anderem akademisch die gegenwärtig entstehende Vivaldi-CD-Gesamtausgabe bei naive.
Mit Prosecco und Parmigiano in der Hand warf man einen Blick ins Palladio-Refektorium nebenan, wo seit neun Jahren ein bis zum letzten Leinwandriss wirklich perfektes Faksimile der von Veronese einst durch Napoleon in den Pariser Louvre verschleppten „Hochzeit von Kana“ die Stirnseite schmückt Es nobilitiert nicht nur farblich die perfekten Proportionen des schlichten Baus.
Schließlich begaben sich die Gäste in den mit viel Holz ausgestatteten, nüchtern modernen Konzertsaal. Händel-Freak Donna Leon war auch dabei, ohne die in Venedig keine etwas auf sich haltende Alte-Musik-Veranstaltung wirklich vollkommen ist. Und hier erklang nun schwebend schön das Monteverdi-Madrigal „Zefiro torna e’l bel tempo rimena“ – „Der Westwind kehrt zurück und bringt das schöne Wetter“. Auch der Petrarca-Text hätte also nicht besser gewählt sein können.
Denn der nunmehr 75-jährige John Eliot Gardiner, nach dem Tod von Nikolaus Harnoncourt der Altmeister der noch älteren Musik, klärte so metaphorisch wie musikalisch die Luft, um den Start seines nächsten Mammutprojekts zu verkünden. Er geht, freilich nicht mit seinem Monteverdi Choir, was naheliegen würde, 2017 auf eine Pilgerfahrt zu und mit Claudio Monteverdi.
Dessen 450. Geburtstag begeht die Musikwelt um sein Taufdatum am 15. Mai 2017. Die Klangreise schließt das Gardiner-Kernorchester, die English Baroque Soloists mit ein, wird aber nicht so lang und aufwändig wie die einjährige spektakuläre Bach-Pilgerschaft zu dessen 250. Geburtstag mit allen 198 Kantaten durch 60 Kirchen Europas anno 2000.
Man wird ja auch nicht jünger, hat zudem neben den Klangkörpern und dem Öko-Bauernhof in North-Dorset auch noch eine CD-Kompanie zu betreuen. Denn als Folge des von der Deutschen Grammophon einst nicht mitgetragenen Bach-Projekts gab Sir John Eliot sein Plattenfirmenabschied und gründete mit seiner dritten Frau Isabella de Sabata (ja, die Enkelin!) das eigene Label Soli Deo Gloria. Das ist ein klein wenig auch in die Monterverdi-Pilgrimage involviert. Schließlich kann sich John Eliot Gardiner, aller Querelen zum Trotz, als glücklichen Platten-Menschen bezeichnen, der in den fetten Siebzigern bis Neunzigern bei allen Majors fast sein gesamtes Repertoire einspielen durfte. Fast. Denn bei Monteverdi fehlt ihm zum Beispiel „Die Rückkehr des Odysseus“, die mittlere der drei überlieferten Opern.
Die soll jetzt in jedem Fall unter das Mikro, soll, zusammen mit den anderen beiden Opern, wohl auch für DVD festgehalten werden. Wird Gardiner doch, beginnend am 10. April in Aix-en-Provence weltweit in einer noch zu definierenden halbszenischen Form Monteverdis so verschiedene wie faszinierende Musiktheater-Trias aufführen. Er reist damit natürlich komplett ins venezianischen Teatro La Fenice, die Stadt, wo 1641 der „Ulisse“ und 1642 die „Krönung der Poppea“ uraufgeführt wurden. Weitere Aufführungsorte sind Bristol, Barcelona, Paris, die Berliner und die Luzerner Festspiele, die bedeutendsten Festivals in Österreich und Schottland sowie diverse Stationen in den USA.
Nur eine „Orfeo“-Vorstellung im Palazzo Ducale zu Mantua, wo 1607 die erste bis heute repertoiretaugliche Oper der Musikgeschichte uraufgeführt wurde, bleibt Utopie. Zu klein und zu kostbar. Zudem wurde Spiegelsaal später umdekoriert.
John Eliot Gardiner will zudem, wie schon vor über fünfzig Jahren, die wohl mit der spezifischen Raumsituation des Markusdoms im Ohr komponierte Marienvesper Monteverdis in der venezianischen Frari-Kirche aufführen. Zudem plant er im Rahmen einer mit der Fondazione Cini ausgerichteten Accademia Monteverdiana, die sich mit Stil und Vortragspraxis beschäftigt, auch eine Reihe von wissenschaftlich unterfütterten Madrigal-Konzerten.
Diesmal sollen nämlich, anders als bei den Aufnahmen in den Neunzigern, keine prominenten Sänger, sondern junge, passende Stimmen im Mittelpunkt dieses Vokalprojekts stehen. Nur Italiener, das blieb freilich ebenfalls mangels Masse auch ein Traum. Mit dabei (sie waren auch beim Konzert in San Giorgio Maggiore zu hören) sind etwa die tschechische Sopranistin Hana Balzíková, die Poppea singen wird, der italienische Bass Gianluca Buratto, den man als Seneca und Charon erleben kann und der blondierte koreanisch-amerikanische Countertenor Justin Kim, der ein wunderbar exaltiert verlorener Nero sein wird und schon als Student mit einer koloraturvirtuosen „Kimcilia Bartoli“-Parodie Youtube-Furore machte.
„Monteverdi steht neben Shakespeare einzig da“, ist sich Gardiner über diese Jubiläumsabfolge der Titanen sicher. „Beide verknüpften perfekt Tragödie mit Komödie und hatten immer Empathie für alle ihre Geschöpfte, die liebenswerten und noblen, wie die niedrigen und gemeinen. Sie wussten um die Wahrheit des allzu Menschlichen. Gerade das möchte ich in dieser konzentrierten Form dem Publikum nahe bringen. So gehen wir gemeinsam auf eine Reise von Arkadien an den Hof und in die Stadt, vom Mythos zur politischen Historie, von der Unschuld zur Korruption, vom Kampf der Götter um einen Künstler, über das fatale Eingeschlossensein eines Helden bis hin zum Doppelporträt zweier wie verrückt Liebenden, unkontrollierbar in ihrer Ambition wie ihrer Lust. Wer also ist am Ende Sieger? Vielleicht die Musik.“
Und natürlich ist ein Vielfraß wie auch dieser Sir John Eliot nicht allein auf Monteverdi konzentriert. 2014 hat er nicht nur eine Bach-Biografie veröffentlicht, er wurde auch Präsident des Leipziger Bach-Archivs. Und eben ist er – nach 14 Jahren Absenz – triumphal zu den Berliner Philharmonikern zurückgekehrt. Diesmal mit griechischen, in moderne Musik gesetzte Mythen, beide Male von Igor Strawinsky komponiert.
Auf den lichten, hinreißend intonierten und vibrant lebendig musizierten neoklassischen Streicherschmelz des „Apollon musagète“-Balletts von 1928 folgte der dumpfe, ostinato-dräuende, dabei stets transparent vorantreibende Orchester- und Chorsatz des Orff-Staccati mit Jazz-Rhythmen verblendenden Oratoriums „Oedipus Rex“ von 1927. Zwei höchst unterschiedliche Seiten einer Klangmedaille. Erst standen die Geiger im Halbkreis, dann wurden die totenschädelbleich geschminkten Gesichter der Berliner Rundfunkchormannen samt junger Vokalsolisten dramatisch aus der abgedunkelten Philharmonie herausgeleuchtet. Hinter dem Chor sprach Bruno Ganz kühl die flapsig-verbindenden Jean-Cocteau-Worte.
Vorne aber hielt John Eliot Gardiner souverän, ganz ohne Strenge und trotzdem mit kantiger Präzision stringent die Klangfäden in der Hand. Als Man für Monteverdi, längst eben auch für die Moderne.
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