In bester Erinnerung von vor ziemlich langer Zeit: Eine Einspielung von Gasparo Spontinis Olympie unter Gerd Albrecht. Orfeo, 1987. Die wunderbar vibrante Julia Varady mit ihren verschatteten Jubeltöne in der Titelrolle, dazu die gustiös brustende Stefania Toczyska. Aber auch der etwas trockene Dietrich Fischer-Dieskau als böser Prinz. Überhaupt: eine seltsame Kuddelmuddel-Handlung, verstiegen und unglaubwürdig, im Schatten des toten Alexander des Großen. Dessen Witwe und Tochter bekämpfen einander, erkennen sich nicht, dazu zwei eifersüchtige Männer mit den Frauennamen Cassandre und Antigone. Am Ende bekommen sich Olympie und Cassendre, Sopran und Tenor.
Grand Opéra in ihrer Frühform, sich bereits 1819 mächtig plusternd. Nicht übermäßig vokalverziert, aber von neo-antikisch faltenreichem Format. Mit auffahrenden, das gipserne Geschehen belebenden Chören, flammenden, emotionsgesättigten Arien, aber eben auch (das große Spontini-Problem) mit wenig erinnernswerten Melodien. In Paris war diese dramatisch verformte Voltaire-Bearbeitung ein Misserfolg. Das änderte sich 1821 im Spontini-geneigteren Berlin. E.T.A. Hoffmann hatte Übersetzungsarbeit geleistet, der Komponist noch einmal das Finale positiv abgeschliffen. Und sogar einen echten Elefanten gab es im Monumentalfinale. Vom Rüsseltier wurde auch bei der Pariser Wiederaufführung Gebrauch gemacht. Doch es war wie früher: Die Franzosen blieben diesem familiären Verwicklungsopus gegenüber kühl. Bis jetzt.
Denn der insgesamt positive „Olympie“-Eindruck von damals bestätigt sich nun bei einer fulminant konzertanten, wie eine vollgültige Premiere beklatschen Wiederbegegnung im art-deco-eleganten Pariser Théâtre des Champs-Élysées. Die nimmermüde Stiftung Palazzetto Bru Zane hatte mit dem satten Dreistünder zum Auftakt ihres alljährlichen, zum vierten Mal stattfindenden Festivals an der Seine geladen, mit dem sie ihre überreiche Saison üblicherweise beschließt. Während freilich nur noch Kammerkonzerte im heimeligen Théâtre des Bouffes du Nord folgten, war die Opernentdeckung wirklich wieder eine, bald auch auf CD veröffentlicht werdende Großtat.
Denn der akustische Eindruck der alten Aufnahme mit dem damaligen Radio-Symphonie-Orchester Berlin ist wie weggewischt. Die renommierte Alte-Musik-Truppe Le Cercle de l’Harmonie unter ihrem energetischen, dabei immer noch milchgesichtig aussehenden Chef Jérémie Rhorer macht in Paris ordentlich Klangdampf. Gibt der vielschichtigen, hier ungekürzt dargebotenen Partitur Wucht und dunkel abgetönten Glanz, ohne je grell zu werden. Da wird feingeistig, aber temperamentvoll musiziert, mit feinem Gefühl für Stimmungen.
Die bewegen sich inhaltlich gern am Rand des Nervenzusammenbruchs. Doch kontrollierte, kultivierte Exaltiertheit tut diesem sehr mit Beethoven-Furor tönendem Gelenkwerk gut – auf der Spur der Romantiker, aber auch zu Rossinis notenreicherem Klangklassizismus und zu den militaristischen Klängen eines Hector Berlioz. So wie sie vorbildlich nicht nur vom ohne allzu gezwungen kontrastreichen Furor aufspielenden, von Rohrer zu heller Transparenz angehaltenem Cecle de L’Harmonie, aber auch vom gut ausbalancierten Vlaamse Radio Koor entfacht wird.
Mehr als 20 Opern hat Gasparo Spontini (1774-1841) komponiert, berühmt ist heute nur noch die sogar von Wagner geschätzte „La vestale“ von 1807. Zwei Jahre später bestellte Napoleon höchstselbst das heroische Tondrama „Fernand Cortez“. Später erfreute sich in Berlin die die Hohenzollern-Dynastie feiernde „Agnes von Hohenstaufen“ des Preußischen Generalmusikdirektors einer gewissen Beliebtheit. Heute werden diese Werke freilich, wenn überhaupt, in ihrer italienischen Bearbeitung gespielt.
Dabei sind sie in ihrer durchkomponierten, kaum mehr zwischen Rezitativ und Arien unterscheidenden Form durch und durch französisch; das offenbart auch die bisweilen martialisch breite, meist aber ganz im Stil der versvollkommenen tragédie wohlgesetzte „Olympie“. Für die – anders als damals in Berlin – in Paris zudem fast nur französische, idiomatisch ideale, wohlgesetzt prononcierende Sänger am Start waren. Die Damen sorgten für besonderes Lametta, optisch wie akustisch: Karina Gauvin, ganz in Taubenblau und Grellrosa, sang mit im zweiten Teil flexibel leuchtenden Sopran eine verletzliche, doch gefühlvolle Olympie; die froschgrüne Kate Aldrich als Statira gab der lange wutschäumenden Priesterin und Mutter gekränkte Größe und Mezzosamt.
Als Tenor-Beau Cassandre war der ungemein musikalische Mathias Vidal neuerlich für Charles Castronovo eingesprungen. Man vermisste den Startenor bei dieser packenden wie viril-lyrischen Interpretation des zaudernden Prinzen Cassandre keinen Moment. Vidal gab einen ungemein leidenschaftlichen und engagiert attackierenden Cassandre. Der hell baritonal timbrierte Josef Wagner war ein nicht untypischer Schurke Antigone, Patrick Bolleire gefiel als genau artikulierender Hiérofante und Priester.
Und die Bru Zanes gehen natürlich auch 2016/17 ihrer Lieblingsbeschäftigung nach: vergessenen, aber hörenswerten Werken der französischen Romantik nachzuspüren. Die finden sich zum Glück zum Hauf in der bestens katalogisierten Bibliothèque nationale. Sie müssen aber philologisch durchforstet und auf ihren Wert befragt werden, dann folgt die Herstellung des Notenmaterials. Anschließend werden in mehr als 50 Veranstaltungen wieder Werke lebendig und nach Möglichkeit auf CD gebannt, die es nicht selten in sich haben.
In der nächsten Saison liegt ein Schwerpunkt auf Camille Saint-Saëns, von dem die Opern „Proserpine“ und „Le Timbre d’ argent“ szenisch an der Pariser Opéra comique neuerlich auf den Prüfstand geschickt werden. Der völlig vergessene, dabei schillernd multifunktionale Tonsetzer Fernand de la Tombelle wird neu beleuchtet. Man exhumiert Jacques Fromental Halévys pompöse „La Reine de Chypre“. „Phèdre“ von Jean-Baptise Lemoyne geht szenisch auf Tour, wie auch weiter die urkomischen „Chévaliers de la Table ronde“ von Hervé. Dem 200. Todestag Étienne-Nicolas Méhuls gedenkt man unter anderem mit dessen damals nicht gespielter Messe zur Krönung Napoleons, die unter Jean-François Roth mit Les Siècles auch beim Bonner Beethovenfest gegeben wird. Und wem das immer noch nicht langt: für den spielt neuerdings das Palazzetto Bru Zane Internetradio, 24 Stunden, rund um die Uhr.
Der Beitrag Entdeckefreunde auch ohne Elefant: Spontinis „Olympie“ in Paris erschien zuerst auf Brugs Klassiker.