In Bayreuth böllerte es mal wieder: Regisseur rausgeschmissen. Dirigent verschwunden. Sänger krank. Neuer Regisseur schimpft über Sicherheitsvorkehrungen. Sitzkissenverbot. Datenschutzbeauftragter entsetzt über obligatorische Personalüberprüfung, die ergibt, dass 35 von 800 Beschäftigten schwerwiegender vorbestraft sind. Die Schlagzeilen aus Oberfranken in der an Kulturnachrichten armen Sommerzeit jagen sich. Auch wenn sie nur Pillepalle sind gegen das, was gegenwärtig von vielen Seiten an unserer freiheitlichen Weltordnung kratzt. Was uns nicht daran hindern sollte, weiterhin an eben diese Freiheit, den Nutzen und den Wert auch und gerade der Kunst zu glauben. Sie als willkommene Ablenkung wie Erweiterung und Erhöhung unseres immer komplexeren Alltags zu begreifen. Und als Dokument und Zeugnis dessen, wo wir her kommen, was unsere Werte sind. Wie eben zum Beispiel die jenseits ihres musikästhetischen Reichtums geistesgeschichtlich nicht nur für das 19. Jahrhunderts so wertvollen, wahnsinnigen und genau deshalb so fesselnden Opern Richard Wagners.
Warum nur kommen also die Bayreuther Festspiele, die – wie jedes Jahr – am 25. Juli starten, nicht zur Ruhe? Sicher, das älteste und einzigartige Festspiel, bei dem auf Wunsch ihres Gründers Richard Wagner seit 1876 nur die immer gleichen zehn Werke eines Komponisten (er selbst) gegeben werden, in dem von diesem entworfenem, zum Teil speziell dafür komponierten Theater, es fasziniert die internationalen Opernliebhaber noch immer.
Doch gute, sogar herausragende Wagner-Aufführungen sind längst auch von Wien bis Honolulu zu erleben. Anders als 1951, beim Neuanfang im vom nazi-brauen Schmutz einigermaßen gereinigten Nachkriegs-Bayreuth, hat der Grüne Hügel heute seine Deutungshoheit längst verloren. Trotzdem besitzt er gegenwärtig nur eine einzige Chance, sich jedes Jahr wieder mit allein einer Neuinszenierung an die Spitze des Diskurses zu setzen. Doch wer, der heute plant, weiß schon, was in vier- bis fünf Jahren noch aktuell ist?
Seit diesem Sommer zeichnet Komponisten-Urenkelin Katharina Wagner allein für die dortigen Geschicke verantwortlich. Die künstlerischen Perspektiven sind nicht schlecht. Nach dem diesjährigen „Parsifal“, dem Jonathan Meese (kontrovers kommentiert) und Andris Nelsons (sehr bedauert) abhanden gekommen sind, aber durch Uwe Eric Laufenberg und Hartmut Haenchen adäquat ersetzt wurden, sind für die folgenden Sommer Barrie Kosky, Philippe Jordan, Alvis Hermanis, Christian Thielemann, der umstrittene Musikdirektor der Festspiele, Dmitri Tcherniakov und wohlmöglich wieder Andris Nelsons angekündigt. Eine durchaus aufregende Künstlerwahl.
Aber das reicht eben nicht. Und deshalb findet mangels Diskursmasse jedes Jahr in schöner Regelmäßigkeit wieder dieses langsam alberne, aber medial kräftig angeheizte Nibelungen-Sommertheater statt. Katharina Wagner muss endlich auch dafür sorgen, dass sich die Komposition einer Festspielsaison nicht auf simples Namedropping beschränkt. Diese Festspiele brauchen unbedingt wieder einen geistigen Überbau. Früher haben Theodor Adorno, Ernst Bloch oder Hans Meyer sie als Wagner-Manifestation auch ideengeschichtlich eingeordnet. Richard Wagner, das ist eben nicht nur ein Komponist wie jeder andere. Die Festspielchefin muss keine Intellektuelle sein, aber sie sollte wissen, dass sie ein Konzept braucht, das mehr ist als nur die Summe von 30 sommerlichen Aufführungen.
Früher hatte selbst ihr Vater Wolfgang Wagner noch künstlerischer Berater. Heute kommen auf den Hügel nur noch Produktionsdramaturgen, die sich um ihre Stücke und die jeweiligen Programmhefte kümmern. Der Rest ist miteinander unverbundener Provinzmief. Da gibt es ab und an mal ein Symposion und eine Meisterklasse ehemaliger Gesangslegenden, aber das geht dann im Dämmer der Augustsonne unter. Und es werden viele, mal mehr, mal weniger wertvolle DVDs produziert. Festspiele müssen heute einen Mehrwert haben. Gerade auch Bayreuth. Das ist es schon seiner schillernden Geschichte schuldig.
Nur immer dieselben zehn Titel (der Komponist selbst hat sich übrigens nie kategorisch für den Ausschluss seiner drei „Jugendsünden“, nämlich „Die „Feen“, „Das Liebesverbot“ und Rienzi“ aus der teuren Halle ausgesprochen), das reicht nicht. Richard Wagner wusste genau, wie er Bayreuth als nationales Festspiel in einer Stimmung aufschäumenden Chauvinismus’ vermarkten musste. Das heutige Bayreuth glaubt aber immer noch, es wäre mit dem puren Musikgenuss im historischen Ambiente getan.
Nicht nur dass gerade dieses aktuell durch absurde Sicherheitsvorkehrungen Schaden nimmt. Weder in Aix-en-Provence (wo man schnell durch elegante Schleusen ging und dann war es vergessen), noch in München, Bregenz oder Salzburg wird wegen einer numinosen Terrorgefahr so überreagiert, wie in dieser notorischen Kleinstadt, wo einmal im Jahr die große Welt (oder was sich dafür hält) einzieht – und das auch nur am Eröffnungsabend. Wagnerianer an sich sind ja friedlich. Die reagieren sich an den stundenlang offenen Schleusen des großen Musik- und Gefühlsrausches ab, buhen hinterher den Castorf aus oder schlagen sich höchstens verbal die Köpfe ein.
Es gibt Überlegungen, die vom Stiftungsrat, den Geldgebern Bayern, Bund und Stadt inzwischen organisatorisch fast strangulierten Festspiele mit ihrem vergleichsweise schlanken Etat von 16 Millionen Euro ganz in die Obhut Bayerns zu geben. Dann könnte endlich auch der Ablauf und die Außenwirkung neu organisiert werden. Und natürlich muss und soll man sich fragen, ob das dann immer noch unter der Mitwirkung der Familie Wagner geschehen soll.
Diese Abkunft ist kein Freibrief, aber bisher hat sie auch zum besonderen Profil dieses Festivals beigetragen. 150 Jahre nach ihrer Gründung steht bei der 105. Ausgabe der immer wieder wegen Krieg, Inflation und Not ausgefallenen Festspiele eine Nachfahrin des Erfinders an der Spitze. Ein wenig Nostalgie soll schon sein.
Bis 2020 läuft Katharina Wagners aktueller Vertrag. In der hintersten Gerüchteküche köcheln freilich die News, dass sich – im Verein mit Bayerns eigentlichem Kulturpolitikgestalter, Ministerialdirigent Toni Schmid – angeblich Nikolaus Bachler bereit hält, nach der Bayerischen Staatsoper Bayreuth zu übernehmen – im Spielverbund mit dem dann renovierten barocken UNESCO-Weltkulturerbe Markgräfliches Opernhaus.
Zumindest die zweite Idee würde Sinn machen. Denn wenn das ebenfalls vom Freistaat sanierte und betriebene Logentheater, das Richard Wagner einst nach Bayreuth lockte, wieder spielbereit ist, könnte es mit einem Rahmenprogramm und als ganzjährlich benutzbare Spielstätte genau diese geistige Lücke füllen, an der die Festspiele derzeit kranken. Was freilich finanziert werden muss. Leisten können wir uns das locker. Aber wollen wir das auch? Ein bisschen produktiver Größenwahnsinn wäre durchaus im Sinn von Richard Wagner…
Der Beitrag Bayreuther Festspiele: Mehr geistig, verstehn’s? erschien zuerst auf Brugs Klassiker.