Mein Text ist online heute Pay Content. Deshalb für Freunde und Fans hier komplett.
Rotes Linoleum, steile Treppen, eiserne Umgänge, Schiebetüren, grobe Wände, eine Fahrbrücke. Könnte eine Justizvollzugsanstalt ist. Ist es aber nicht. Genauso wenig, wie das dafür von seiner Fassade her viel zu noble Gebäude aus dem 18. Jahrhundert stammt. Beides ist DDR-Architektur der Fünfziger. Außen ist es immer noch die historistisch gefälschte Rückseite des Funktionsgebäudes der Berliner Staatsoper an der Französischen Straße, innen war es einmal hochmodisches Kulissenlager, dessen Mechanik freilich schon lange nicht mehr funktionierte.
Und jetzt ist es „eine private Hochschule mit Konzertsaal, die vom Bund finanziert wird, aber dem Berliner Hochschulgesetz unterliegt“. So präzisiert es Michael Naumann in seinem neuen, nüchternen, noch nicht ganz fertig eingerichteten, aber ebenfalls mit rotem Linoleum ausgelegten Büro. Der 74-Jährige war bereits Journalist, Publizist, Verleger, Herausgeber – und erster deutscher Kulturstaatsminister. Und jetzt ist er, obwohl er sich bis vor kurzem gar nicht so sehr für Klassik begeistern konnte, inzwischen aber stundenlang vor dem Fernseher alten Konzertmitschnitte genießt, der Gründungsdirektor der dritten Berliner Musikhochschule, aber einer besonderen: der Barenboim-Said Akademie.
Nauman und die Akademie residieren links, in den 21 von dem Architekturbüro hg merz gestalteten Büros und Probenräumen, die teilweise als akustisch abgekapselte Kisten in den hohen Räumen mit den extrem dicken Wänden liegen. Einst rumpelten mittels eines komplizierten Rollensystems die Container mit den Bühnenbildern da rein. Jetzt wird hier verwaltet, doziert, geübt.
Rechs aber geht es in den Pierre Boulez Saal, wo eben noch das Parkett verlegt wird. Hell ist es hier, der Denkmalschutz hat die vielen, verdunkelbaren Fenster bewahrt, durch die tagsüber die Stadt hineinreflektiert, die darin bald Probenden und Spielenden zwar geräuschisoliert, aber trotzdem am alltäglichen Leben teilhaben lässt. Man geht hinunter ins Parkett, dessen einziehbare Sitzsegmente noch nicht installiert sind. Darüber schwebt, als konzentrisch verwobene Doppelellipse aus Stahl, der Rang. Alles geht hier. Musikalisch. Und es war, abgesehen von den Baukosten, umsonst. Ein Geschenk.
Architekturguru Frank Gehry hat es aus Freundschaft für die Musikhöhenflüge von 620 Zuhörern designt. Seine sonst gern egozentrisch dekonstruktivistischen Gedankenflüge musste er freilich dem streng rational vorgehenden Akustikgenie Yasuhisa Toyota unterordnen. Beide haben als Winning Team etwa die futuristische Walt Disney Hall in Los Angeles zu verantworten. Und jetzt also bekommt Berlin neben der weltberühmten Scharoun-Philharmonie, seit über 50 Jahren leuchtender Prototyp eines modernen, demokratischen Konzertsaals, ein weiteres, wegweisend multifunktionales Auditorium, in dem beinahe jede Art von Musik möglich scheint.
Und genau dieser Pierre Boulez Saal wir es jetzt wohl sein, der diesem so visionären wie riskanten Unternehmens namens Barenboim-Said Akademie in der Öffentlichkeit zu einer breiteren Akzeptanz verhelfen wird. Denn ihrer Genese ist so verschlungen, wie von einem Netz persönlicher Sympathie und Gutmenschentum begleitet. Mit diesem Saal aber offeriert sie dem Musiklebende der Hauptstadt mit ihren allein sieben großen Orchestern genau das, was ihr noch fehlte: einen zentralen, hochmodern flexiblen Spielort mittlerer Größe. Denn der Kammermusiksaal der Philharmonie hat über 1000 Plätze, die beiden kleinen Säle des nahen Konzerthauses am Gendarmenmarkt fassen höchstens 350 Besucher. In der Französischen Straße aber wird künftig von der Barocksonate bis zum allerneusten elektroakustischen Klangkunststück alles möglich sein.
In einem Gebäude, das eigentlich auch der nebenan überteuert sanierten Staatsoper zugute kommen sollte. Das wegen der dortigen Kostenexplosion das Land Berlin und die Opernstiftung aber zur Hälfte in Erbpacht für einen Euro pro Jahr (der wirklich überwiesen wird) für 99 Jahre dem sofort zugreifenden Barenboim-Unternehmen zur Verfügung gestellt haben.
Michael Naumann kann es, obwohl er bei der Verwirklichung wesentlich daran mitgestrickt, genetworkt und alle seine Verbindungen hat spielen lassen, immer noch nicht ganz glauben, was hier jetzt ab Herbst vom akademischen Stapel geht: „Das war der Prototyp einer Public-Private-Partnership, aber jetzt begeben wir uns in die Obhut des Deutschen Staates. Als gemeinnützige GmbH. Ja, das dürfte einmalig sein. Bei Vollbelegung mit 90 Stipendiaten kostet das etwa 7 Millionen jährlich.“
Damit ist die Zahl für den Betrieb von Akademie plus Saal auf dem Tisch. Man kann sich darüber einfach nur freuen, über diese so unerwartete wie unübliche Großzügigkeit gegenüber der Kultur. Oder man kann das jetzt als ewig weiterreichend schlechtes deutsches Gewissen deuten, dass der deutsche Staat über 70 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus die Akademie eines weltberühmten, inzwischen stark mit Berlin assoziierten jüdischen Dirigenten finanziert, die eben in Berlin israelische, palästinensische, syrische, jordanische und ägyptische Musiker ausbildet und zusammenbringt. Eine schöne Utopie fürwahr, aber keine ganz billige.
Und braucht es die überhaupt? Ja, man wolle so den Friedenprozess im Nahen Osten begleiten, kommt es etwas pastorentöchterhaft von Naumanns Nachfolgerin als Kulturstaatsministerin, Monika Grütters. Natürlich ist auch sie schnell in dieses Musikboot eingestiegen – mit viel Geld, es liegt ganz auf ihrer inhaltlichen wie ideellen Linie.
Michael Naumann nennt die Zahlen: „Der Planungsverlauf war insgesamt sehr gut. 20 Millionen hat der von unserer Mission überzeugte Haushaltsausschuss via Bundeskulturministerium zugestanden. Mit etwa 32 Millionen Euro Baukosten sind wir rund 1,5 Millionen Euro teurer als geplant geworden, das ist größtenteils den Preissteigerungen geschuldet. Eine gute Million davon muss ich noch finanzieren.“ Was er zu schaffen gedenkt.
Naumann macht aber auch unbedingt klar, dass hier wirklich nur Spitzenförderung bedient wird, allen aktuellen Umständen in der Heimat der Erwählten zu Trotz: „Ich bin überrascht, wie hoch das Niveau der Bewerber ist. Ja, auch trotz der politischen Situation in diesen Ländern, wird dort kontinuierlich unterrichtet, gibt es genug Musikstudenten, die es wert sind, bei uns den letzten Exzellenzschliff zu bekommen. Wir werden das Projekt übrigens in Kürze auch auf die Türkei erweitern.“
Und somit wird hier jetzt mitten in Berlin gebaute und bezahlte vor allem aber erweiterte Realität, was 1999 in Weimar eigentlich nur als ein saisonales Good-Will-Projekt begonnen hatte: ein weiterer Jugendorchester-Campus, aber, weil vor allem von Daniel Barenboim angeschoben, mit weitreichender Botschaft. Das von ihm und seinem mittlerweile verstorbenen Philosophenfreund Edward Said im Goethegeist gegründete West-Eastern Divan Orchestra.
Das ist von Thüringen durch die Festival- und Konzertsaal-Welt gewandert, wurde mal vom Chicago Symphony unterstützt, dann wieder von Andalusien; gegenwärtig wird es auch mit argentinischem Fördergeld finanziert. Der Klagkörper ist in die Jahre gekommen, ist längst kein sich ständig austauschendes, wirkliches Jugendorchester mehr. Barenboims Sohn Michael amtiert als ständiger Konzertmeister, ein Großteil sind spanische Musiker. Bei wichtigen Konzerten spielen auch mal Edelaushilfen der Berliner Staatskapelle und Philharmoniker mit.
Inzwischen gibt es aber drei Barenboim-Babys: neben dem Orchester die Daniel Barenboim Stiftung, welche die Barenboim-Said-Akademie als GmbH betreibt und seit 2005 den Berliner Musikkindergarten, der eigentlich auf dem neuen Akademiedach eine neue Heimat finden sollte; was aus statischen und monetären Gründen aber nicht geschah.
So bleibt der mittelalte Bau mit den neuen Innenleben den etwas älteren Semestern vorbehalten. Ein Pilotprogramm hat im Oktober 2015 begonnen, jetzt wird der Lehrbetrieb mit neuen Studenten und mit von Barenboim, der natürlich auch selbst unterrichten wird, ausgewähltem Dekan und Professoren hochgefahren.
Heute aber wird das vorgestellt, was die Allgemeinheit wirklich begeistern soll: das Programm des Boulez-Saals, der nach einer Einspielphase am 4. März 2017 eröffnet werden wird. Und ab heute können auch bereits über boulezsaal.de die Tickets gebucht werden. Ole Baekhoej, der neue Intendant des Saales, hat vorher das Dänische Rundfunkorchester und das Mahler Chamber Orchestra geleitet, jetzt hat er bereits 100 Veranstaltungen für die erste Rumpfsaison disponiert. Hier werden Studenten spielen, aber auch das gemeinsam aus Staatskapellen- und Divan-Musikern geformte Boulez Ensemble. Die Staatskapelle hat pro Spielzeit zudem ein Anrecht auf sieben Abende, die sie mit Barenboim zunächst mit Schubert-Sinfonien füllt. Das Konzerthaus konzipiert eine Reihe, und natürlich soll und muss der Saal auch vermietet werden, für nichtmusikalische Veranstaltungen inklusive, für die es ebenfalls schon Anfragen gibt.
„Natürlich rechnen wir im laufenden Konzertbetrieb mit kleineren Verlusten“, sagt Michael Naumann. „Die können wir auffangen. Wichtig ist es Daniel Barenboim und dem Intendanten Ole Baekhoej, im Boulez-Saal künstlerisch etwas riskieren zu können. Dafür sind wir neben dem Akademiebetrieb schließlich auch für die Öffentlichkeit da.“
Der Beitrag Alles zum neuen Berliner Boulez Saal erschien zuerst auf Brugs Klassiker.