37.000 Besucher (nicht nur zahlende) können nicht irren. Das Musikfest Berlin war wieder ein voller Erfolg. Wie natürlich immer, glaubt man der bewährten Pressestellenprosa. Im elften Jahr von Winrich Hopp verantwortet, hatte es diesmal glücklicherweise kein Motto, sondern feierte nur nebulös die „Ausnahmewerke“ – was immer auch ein Opus als solches auszeichnet. Nur fünf große Gastorchester waren diesmal dabei, darunter gleich alle drei wichtigen Orchester aus München, Philharmoniker, Staatsorchester, BR-Sinfoniker im wohlfeilen Vergleich. In Sachen Mut punktete der Bayerische Rundfunk am stärksten, aber Kunststück, da konnte Hopp mit dem wild losschlagenden Ballettjugendwerk „Tutuguri“ von Wolfgang Rihm sich selbst einen Gefallen tun, denn dort programmiert er ja auch die Musica Viva-Reihe…und ein Rihm-freies Musikfest Berlin kann und darf selbstredend nicht sein.
In Sachen Klangkultur und Interpretationswagemut kam der längst fast zu mythisch verklärte Kirill Petrenko mit seinem Münchner Opernorchester glänzend weg. Bei Ligeti, Bartók und Strauss wollten sich die grabenerfahrenen Musiker natürlich auch auf dem Konzertpodium beweisen, und Petrenkos erster Berliner Auftritt seit der Philharmonikerwahl (für den Herbst ist, vor den Konzerten im Februar, endlich auch einmal ein Erscheinen in Sachen Zukunft Karajanplatz angekündigt…) war ganz klar ein Selbstläufer. Doch auch die Münchner Philharmoniker unter ihrem im Niveau schwankenden Chef Valery Gergiev hatten mit Ustwolstkaja und Schostakowitsch das richtige Reisegepäck dabei.
Das reine Vergnügen war, auf Einladung von Simon Rattle, John Wilson und sein Orchester. Man staunte über das manuelle Können und die Metiersicherheit, mit der die Engländer die klingenden Schätze aus dem MGM-Musical-Tresor aufpolierten. Auch wenn die Gesangssolisten nicht immer optimal ausgesteuert waren, diese herrlich klingende, durchaus komplexe Musik ging sofort in den Bauch und verbreitete einfach gute Laune. Auch wenn mancher dünnlippige Musica-Nova-Apologet bei soviel Schmalz und Frohsinn gleich wieder mal das Abendland untergehen sah…Bitte in Zukunft mehr davon!Eher zum Durchwinken: das venezolanische Simon Bolivar Jugendorchester mit dem etwas verblassenden Stern Gustavo Dudamel, der wenig inspiriert in Olivier Messiaens hier nicht gerade selten aufgeführter Turangalila-Sinfonie stocherte. Gut verteilt und programmatisch gemischt diesmal auch die Neue Musik-Ensembles, Matthias Pintscher mit seinen Intercontemporain-en mit eigenem und weiterem Rihm, Tabea Zimmermann mit Enno Poppe und dem Ensemble Resonanz mit überlang viel Poppe (wenig poppig), Saunders und Schubert sowie das Ensemble Musikfabrik mit einem pfiffigen Varèse- und Frank-Zappa-Abend.
Das Musikfest ist traditionsgemäß immer auch die Eintrittskarte für die sechs großen Berliner Orchester in die eigene Saison. Die Philharmoniker durften gleich zweimal, eher auf Normalniveau mit einem ohne Bayreuther „Parsifal“-Dirigate ausgeruhten Andris Nelsons, spannender aber mit ihrem diesjährigen Artist-in-Residence, John Adams am Pult und auf den Ständern: Neben der herrlich aufblühenden Harmonielehre begeisterte vor allem das klangliche Raffinement der 2015 komponierten dramatischen Sinfonie Scheherazade.2 – vor allem wegen dem klanglichen wie körperlichen Einsatz der hier nur selten zu erlebenden Geigerin Leila Josefowicz.
Ganz großes Kino im wahrsten Wortsinne dann das Rundfunk-Sinfonieorchester unter dem bewährten Frank Strobel mit Sergej Eisensteins dreistündigem „Iwan der Schreckliche“ samt der dazugehörigen, martialisch-mitreißenden Prokofiew-Musik. Eine so monumental wie tuntige Herrscherhagiografie, die die Historie zeigt und Väterchen Stalin meint. Während das Orchester der Deutschen Oper unter Donald Runnicles mit Rued Langgaard seinen Programmauftrag (Ausnahmewerk!) mehr als nur erfüllte, waren alle natürlich wegen dem Sieglinden-Debüt von Anja Harteros gekommen, die auch wirklich sang (!) und im 1. „Walküre“-Akt das Wälsungenblut in Wallung brachte.
Unauffällig wie so oft das Konzerthausorchester unter Iván Fischer, gut gelaunt hingegen das Deutsche Symphonie-Orchester. Das machte aus der Not eine Tugend. Weil der vielgefragte Schlagzeugstar Martin Grubinger Luzerner Ur- wie Deutsche Erstaufführung des für ihm komponierten Olga-Neuwirth-Perkussionswerkes „Trurliade – Zone Zero“ abgesagt hatte, beklöppelte unter Jakub Hrusa jetzt Robyn Schulkowsky mit Verve Kuhglocken und vor allem ein gelbes „Banana Purree“-Ölfass. Das ein wenig zu lange Werk ist erstaunlich sonnig, lyrisch und raffiniert, ein funkelndes Capriccio entfesselter Schlagwerkmöglichkeiten. Zum Abschluss dann noch der Elgar-affine Daniel Barenboim samt Staatskapelle. Der hatte, wie schon vor vier Jahren mit den Philharmonikern, „The Dream of Gerontius“ gewählt. Die Ausnahme an diesem Abend: ungebührlich viele Sängerabsagen. Gleich zwei, die erste Jonas Kaufmann, in der Tenorpartie. Aber auch so ein Chorfest zum guten Musikfestabschluss.
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