Klein und doch groß, das ist Steve Reich, der heute achtzig Jahre alt wird. Klein nur stilistisch: Er war der erste nicht unter den Minimalisten, der einzigen zeitgenössischen Komponistengruppe aus Amerika, die nach dem zweiten Weltkrieg der schnell sehr selbstgefällig gewordenen, sich elitär, mitunter auch engstirnig abschottenden europäischen Tonsetzer-Avantgarde unbequem auf den doktrinären Pelz zu rücken vermochte. Das waren Terry Riley und La Monte Young. Aber Steve Reich ist ihr besonders raffinierter, cooler, eleganter, ja sogar hipper Vertreter geblieben. Einer, der es in die Welt des Pop wie der Neuen Musik, den beiden sich nach wie vor hierzulande eher naserümpfend beschnüffelnden Lagern, geschafft hat. Eine lässige Ikone mit Basecap und durchaus auch politischer Aussage, aber nie ein Purist, sondern einer der es immer vermochte, seine Musik echtes Leben einzuhauchen.
Steve Reich, geboren am 3. Oktober 1936 in New York, einer der den kontrollierten Lärm des Schlagzeugs liebte und der von Anfang an ein grandioser Rhythmiker gewesen ist, hat sich auch mit Wittgensteins Philosophie und dem Jazz eines Miles Davis, Charlie Parker und vor allem John Coltrane beschäftigt. Schon in seinem dritten Lebensjahrzehnt war er wirklich berühmt und er ist es geblieben. Er ging sorgfältig mit seinem sich überschaubar verästelnden Werkkorpus um, sein Stil war irgendwann vollendet, er hat ihn aber eben nicht endlos repetiert, verwässert und gemolken.
Natürlich stand am Anfang seiner Bekanntheit ein Schlagzeugstück, Drumming von 1971, ausnahmsweise monorhythmisch, 90 Minuten lang, ein Mantra, sich wandelnder und überlagernder Phrasen, passend in den psychedelischen Zeitgeist. Ein Solitär, der seine luzide pulsierende, einfach und doch komplexe Kraft bis heute bewahrt hat, das immer wieder auch benutzt worden ist von anderen Künsten, am schönsten, soghaftesten im gleichnamigen Tanzstück von Anne Teresa de Keersmaeker.
It’s gonna rain von 1965 mit seinem geloopten Predigerruf, Piano Phase (1967) – schon früh wollte Steve Reich die Wirklichkeit, das Draußen in den Konzertsaal bringen. Es ist ihm gelungen. Viele seiner Stücke sind längst bereit als Titel Legende, Bestandteil eines nicht nur maßstäblichen, sondern auch wirklich aufgeführten Werkkataloges: wie etwa die nach Auschwitz ratternden, aber auch quer durch Amerika fahrenden Different Trains (1988) für die vier Einzelstimmen des Kronos Quartet oder die betörende Music for 18 Musicians, erstmals erklungen 1977, mitten in der Disco-Ära. Beide sind sie mit Grammys gekrönt, mit dem Pulitzer-Preis wurde Reich dann 2009 für Double Sextet ausgezeichnet.
Steve Reichs Musik ist raffiniert und komplex, aber man hört sie auch gern, das Publikum reagiert auf sie, bis heute in der aktuellen, angeblich so seriösen Musik nicht unbedingt üblich. Man liebt seine Desert Music, aber auch eines seiner letzten Werke, Radio Rewite von 2013. Seine Musik ist im besten Sinne Zeitgeschichte, reflektiert unser Leben und Denken, unsere Ängste und Freuden, besonders auch das so heikle wie lakonische „WTC 9/11“.
Maßstäbe setzte er auch, gemeinsam mit seiner zweiten Frau, der Filmkünstlerin Beryl Korot, mit seinen beiden wirklich innovativen Videoopern „The Cave“ (1994) und „Three Tales“ (2002). Sie verknüpfen auf faszinierende, damals so noch nicht gesehene Art, Bild und Klang, vor allem aber auch Audio-Strukturen und Video-Sequenzen und formen aus der von den Juden, den Christen wie den Moslems geteilten Geschichte Abrahams ein bestürzend aktuelles, auch – wie wiederholt – seine jüdische Herkunft reflektierendes Kunstwerk. In „Three Tales“ waren es dann drei Ereignisse des 21 Jahrhunderts, der Absturz des Zeppelins „Hindenburg“, die Atomversuche auf dem Bikini-Atoll und die Geschichte des Klon-Schafs Dolly die Zeitgeschichte mit tiefgründiger Musikdramatik mixen.
Johann Sebastian Bach und Igor Strawinsky hat Steve Reich gern als seine ersten Vorbilder benannt, er wurde selbst schnell ein Klassiker, mit einem festen Platz in der Musikgeschichte. Nicht wenigen gilt er heute als der bedeutendste lebende Komponist. Zumindest ist er einer der überwältigend flächendeckend rezipiert wird. Manchmal dauerte es, bis er sich offensichtlich weiter, in eine neue Richtung bewegte, aber immer, auch im Kleinen, experimentierte Reich mit Metrum und Harmonik, wandelte er sich. Nie war da Mechanik, immer die Freude an einer neuen Farbe, anderen Stimmungen, gelungen erfüllten Themen.
Und natürlich war es wieder mal der Trüffelschnüffler Manfred Eicher, der auch Steve Reich eine Plattenikone bereitete, eben 1978 die Music for 18 Musicians, die er der Deutschen Grammophon wegschnappte. Als erste Klassik-Veröffentlichung des Jazzlabels ECM verkaufte es über 100.000 Stück, noch zwei weitere, mit altem wie neuen Material folgten, darunter das wichtige Tehillim von 1982. Dann aber wechselte Reich zu seiner amerikanischen Heimatbasis bis heute, zu Nonesuch. ECM hat diese drei, 15 Jahre Kompositionsarbeit umfassenden Album-Meilensteine mit den kompletten Liner-Notes, neuen alten Fotos und einem trefflichen Essay von Paul Griffiths jetzt als Geburtstags-Box neu aufgelegt.
Gerade neu eingespielt vom MDR-Sinfonieorchester unter Kristjan Järvi wurden die farbenfrohen Daniel-Variations. Das Ensemble Signal unter Brad Lubman lässt bei harmoni mundi nach seiner feinen Neuaufnahme der Music für 18 Musicians das Double Sextet und Radio Rewite neu erstrahlen. Und am 1. November steht in der New Yorker Carnegie Hall mit „Pulse“ die jüngste Steve-Reich-Uraufführung an – schon der Titel ist eine Hommage, an das Schönste, was er der zeitgenössischen Musik gegeben hat.
Als Verfertiger von „Roboter- und Zombie-Musik“ wurden Steve Reich und seine berühmtesten Minimalismus-Kollegen, Philip Glass und John Adams, bisweilen geschmäht, diese Kämpfe sind inzwischen fast geschlagen. Vor allem weil Steve Reich, der Meister der Marimbas und Xylophone, der Veredler der Perkussionswelten Afrikas und Indonesiens sowie der der den Raum unseres Hörens neudefiniert hat, sich selten etwas anderes als makellose Qualität geleistet hat.
Steve Reich: Double Sextet/Radio Rewrite (harmonia mundi); Duett, Clapping Music, The Four Sections, Daniel Variations (Sony Classcial) The ECM-Recordings (ECM)
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