Diesmal gibt es die Blumen schon vorher. Drei Rosen sind es, die da auf dem Podium im Berliner Kammermusiksaal liegen, als die Besucher zum ersten Abend der nunmehr im zwölften Jahr laufenden Konzertreihe des Artemis Quartett hereinkommen. Drei Rosen, zwei weiße und eine karmesinrote. Wurden die von drei Fans gebracht? Oder stehen sie – die rote für Vineta Sareika, die beiden weißen für Gregor Sigl und Eckart Runge? – für die drei übrig gebliebenen Mitglieder dieses wunderbaren Quartetts, das sein dominanter Bratscher Friedemann Weigle am 6. Juli für immer verlassen hat, als er nicht mehr in dieser Welt bleiben wollte. Mit 53 Jahren.
Natürlich kann es nicht so einfach weitergehen. Die drei haben getrauert – und mit ihnen eine tief bestürzte Musikwelt. Denn das Artemis Quartett – benannt nach der Göttin der Jagd, vital, temperamentvoll, angriffs- und abenteuerlustig – es war ein Leuchtturm der Kammermusik, eine feste Größe, eine der besten Viererformationen der Welt, gerade wieder etabliert, nachdem es schon mehrfach durch Personalwechsel seine Identität und auch seine Persönlichkeit geändert, aber nie seine Qualität verloren hatte. Jedes neugeformte Artemis Quartett war anders, und gemeinsam wurde es jedes Mal immer besser, immer vielseitiger, immer selbstbewusster. Vielleicht auch, weil die Musik um die Stütze des seit den Anfängen 1989 immer am Cello sitzenden Eckart Runge sie zusammenhielt, eine Art Artemis-DNA jeweils übersprang und weitergegeben wurde.
Friedemann Weigle war schon vorher Jahrzehnte lang, auch geprägt durch seine Musikerfamilie, in der Kammermusikszene zu Hause, zuletzt beim Petersen Quartett, brachte ab 2007 ein wenig Machoallüre in das Quartett; einen virilen, nach Moschus duftenden Biss, aber er konnte auch ganz weich und fein spielen. Man hört das auf der letzten gemeinsamen, nunmehr posthum veröffentlichten CD mit dem 1. und dem 3. Streichquartett von Johannes Brahms, wenn sich die beiden Geigenstimmen immer wieder einzeln mit der prägnanten Bratsche intrikat verschlingen, gemeinsame Duette und Terzette singen. Natalia Prishepenko, die Primgeigerin, die 2012 ausschied, forderte mit ihrem kräftigen, bisweilen harschen Bogenstrich oft Widerstand, Gegenrede heraus. Die viel weiblichere Vineta Sareika, die dem Artemis Quartett seither opake Glanzlichter aufsetzt, entwickelte mit ihren drei Männern ein biegsameres, nuancenfeineres Spiel.
In dem jetzt Friedemann Weigles kerliger Klang fehlt. In Memoriam geht man gegenwärtig auf die längst geplante Herbsttournee. Die Leerstelle wird nicht kaschiert, sie wird anfangs wehmütig thematisiert, dann aber kreativ weiterentwickelt. Das Lächeln des nunmehrigen Trios, das wie bei der Trauerfreier für Weigle, das Thema der Goldberg-Variationen sich singend entfalten lässt, es scheint ein erinnerndes, an gute Quartettzeiten, an einen gesunden Kollegen und Freund. Eckart Runges Bach-Bearbeitung lässt Teile aus der Englischen Suite und der Sinfonia BWV 795 hören, montiert dazwischen Arturo-Piazzolla-Stücke, die der Popliebhaber Weigle so mochte. Und natürlich vollführt dieser so heiter, versonnene, aber auch unmerklich verschattete, weiträumige Bach sein Tröstungswerk, die immer wieder dazwischenflatternde Goldberg-Aria, sie könnte sich auf ewig so weiterspinnen.
Hinter den dreien steht ein Flügel, den besetzt jetzt Elisabeth Leonskaja, geschätzte und meisterliche Klavierpartnerin immer mal wieder, die jetzt Friedemann Weigle vertreten muss, ihn aber nicht ersetzen kann und will. Wenn es schon sein soll, die drei hätten es sicher unter anderen Vorzeichen lieber getan, dann spielen sie jetzt ihnen sonst fremde, nicht für ihre übliche Besetzung komponierte Literatur von dennoch sehr nahestehenden Komponisten: das spröde verschlungene Klavierquartett von Robert Schumann und das 3. Klavierquartett von Johannes Brahms. Beides Werke mit kräftigen, markanten, ja ernsten Anfängen, wild wirbelnden Scherzi und langsamen Sätzen, in denen sie ihr magisch bannendes Zentrum finden. Und während sich die Leonskaja lyrisch im Hintergrund hält, dem festen, soliden, verlässlichen Klangrahmen schafft, erkunden die drei das unerforschte Terrain, ohne jede Routine, aufmerksam, noch mehr auf die Regungen und Reaktionen der anderen lauernd und diese erspürend.
Im Schumann zeichnet sich schon ab, was dann im Brahms schönste Erfüllung wird: Das Erblühen einer Melodie in der ersten Geige, die aufsteigt und zu leuchten beginnt, von den anderen aufgenommen, weitermoduliert, davongetragen wird. Es ist ein schmerzlich-schönes, wehmutsvoll ruhiges, lauteres Eintauchen in ein präzises Linienkonstrukt, das doch hier und jetzt mit individuellem Ton, Atmen, Sein gefüllt wird. Und das so vollkommen, dabei so unsentimental einfach gespielt, dass es wunderbarerweise in der zugegebenen Wiederholung noch bewusster, dankbarer vom Publikum so wahrgenommen wird.
Die tröstliche Kraft der Musik, dieser so schöne, so traurige, aber so hoffnungsfrohe Abend hat sie einmal mehr überdeutlich gemacht. Und das Artemis-Leben muss, soll, wird auch nach dem Freitod von Friedemann Weigle weitergehen. Seine Nachfolge ist ausgeschrieben, offiziell auf der Webseite, aber natürlich laufen auch Gespräche und Vorspiele im Netzwerk-Kreis. Man sucht freilich einen zweiten Geige – oder einen Bratschisten. So wie 2007, als Weigle und Gregor Sigl beides konnten, auch menschlich gepasst hätten, plötzlich noch eine Stelle frei wurde und das Duo neu zum Quartett stieß. Wieder einmal ist jetzt also beim Artemis Quartett künstlerisch alles, personell vieles offen. Und wer jetzt Gregor Sigl, sonst zweite Geige, als hinreißenden, sonor konzentrierten Bratscher erlebt hat, der mag sich vorstellen wie aufregend das werden könnte.
Und bis dahin, nach dem Konzert ist vor der CD, bleibt etwa das noble, herbe 3. Brahms-Quartett von der Konserve mit dieser bohrenden, immer wieder nach Führung heischenden, dann wieder abtauchenden Bratschenstimme…
Brahms: Streichquartette Nos. 1 & 3. (Erato)
Das Artemis Quartett ist dankbar für Spenden an das Friedemann-Weigle-Programm zur Aufklärung über bipolare Depression bei jungen Musikern, ein Programm im Rahmen der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Bank für Sozialwirtschaft, Kto: 3474200, BLZ 86020500, IBAN: DE73860205000003474200, SWIFT / BIC: BFSWDE33LPZ, Kennwort: Friedemann-Weigle-Programm.
Der Beitrag In Memoriam: Das Artemis Quartett – ohne Friedemann Weigle erschien zuerst auf Brugs Klassiker.