Er dirigiert auch noch nach 40 Jahren Praxis, als ob er Wäsche aufhängen würde und dabei die Klammern vergessen hat. Sein Bauch wölbt sich inzwischen so kugelrund unter dem schwarzen Dauerschwangerschaftsabendleibchen wie der des Ritter Falstaff, den er – in der Salieri-Opernvariante – eben am Theater an der Wien wiederbelebt hat. Und er ist eigentlich der einzige seiner Profession, dessen Sprechstimme sich – dünn, hoch, ein wenig meckrig und, wenn er aufgeregt ist, leicht am Überschnappen – so klischeehaft anhört wie man sie sich bei einem Ex-Countertenor vorstellt. Zwar hat der Belgier René Jacobs auch auf diesem Gebiet Großes und musikarchäologisch Wichtiges geleistet, doch die Menschheit kann froh sein, dass er, der heute seinen 70. Geburtstag feiert, mit seiner Musikalität, seiner Neugier, seinem Wissen und seiner Willenskraft doch als Dirigent weit mehr Bleibendes vermocht hat: von Monteverdi bis Mozart, von Rossi bis Rossini erstreckt sich inzwischen sein Repertoireappetit.
In den aufgeschlossenen Theatern Mitteleuropas, mit Schwerpunkt Belgien, Frankreich, Österreich und Deutschland (seit 1992 an der Berliner Staatsoper Unter den Linden, meist die Akademie für Alte Musik vor sich), ist René Jacobs eine führende Autorität in der frühen italienischen Oper, er hat sich aber auch für die Deutschen Telemann und Keiser stark gemacht. Er hat drei Jahre als Lehrer Latein und Griechisch unterrichtet, daher vielleicht das manchmal Didaktische, das aber schnell wieder durch sein echtes Theatertemperament vertrieben wird. Gerade bei vermeintlichen Kleinmeistern wie Caldara, de Cavalieri, Cesti, Conti, Scarlatti, Steffani, Gassmann hat er wunderbar farbige, das Repertoire bereichernde und die Kenntnis über diese gar nicht so schematische, durchaus experimentierfreudige Epoche ungemein erhellende Entdeckungen gemacht.
Als Schüler von Alfred Deller ist René Jacobs unnachgiebig zu seinen Sängern, schreibt ihnen noch die kleinsten Verzierungen aus, wen er aber in sein Ensembleherz geschlossen hat, der ist dort meist auf lang eine feste Größe. Viele davon hat er bereits an der Baseler Schola Cantorum unterrichtet. Wie die meisten seitenspringenden Alte-Musik-Dirigenten, die eigentlich anders gelernt hatten, gründete er zunächst mit dem Concerto Vocale Gent sein eigenes, auf ihn eingeschworenes Ensemble, doch seit langen Jahren dirigiert er schon neben der AkaMus vornehmlich das Concerto Köln, das Freiburger Barockorchester und sogar das junge Genter B’Rock Orchestra. Von 1997 bis 2009 fungierte er bei den seither leider verblassten Innsbrucker Festwochen für Alte Musik als befeuernder künstlerischer Leiter; schon lange vorher war er dem Festival verbunden.
Die Verbindung zu seiner Exklusiv-Firma harmonia mundi (wo man jetzt den runden Geburtstag nicht weiter feiert, schließlich ist der Hausstar dauerpräsent) war natürlich nie ungetrübt. René Jacobs wollte immer das Absolute und noch viel mehr. Und auch wenn sich nicht alle seine Pläne verwirklich haben, so wie er auch in der Wahl seiner Regisseure nicht immer sehr stilsicher ist, so weist sein medialer Katalog in oft auch haptisch schönen Editionen und mit über 250 Einspielungen viele Kostbarkeiten auf: vom Monteverdi-Zyklus über die zum Glück auch in Herbert Wernickes hinreißend kluger Inszenierung festgehaltene „La Calisto“ Cavallis, die großen Bach-Vokalwerke in unorthodoxer Choraufstellung und die reifen Händel-Werke bis zu seinem vielfach preisgekrönten Mozart-Opernzyklus; den er mit einer wieder beherzt gegen den Strich gebürsteten und eigenwillig besetzten „Entführung“ vorerst abgeschlossen hat.
René Jacobs auf CD oder live, macht immer Spaß, weil sein so temperamentsattes wie auch tiefsinniges Musizieren stets organisch wirkt. Er liebt die Dramaturgie der Kontraste, aber er überreizt sie nie. Und vielleicht schafft er ja doch noch das scheinbar Unmögliche, von ihm so sehr Gewünschte: eine ungekürzte Aufführung von Antonio Cestis 1668 in Wien uraufgeführter, mythenumrankter Festoper „Il pomo d’oro“ als Apotheose des barocken teatrum mundi: zwei Tage lang, mit 24 Bühnenbildern, Pferden, Seeschlachten und Flugwerken sonderzahl.
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