70 Jahre – das ist zwar schon Rentenalter, aber noch nicht richtig weise. Und dem Jubilar sieht man es sowieso kaum an. Schon deshalb nicht, weil er seinen Namen Deutsches Symphonie-Orchester Berlin ja auch nicht durchgehend geführt, sich immer wieder gehäutet und mit durchwegs sehr guten Chefdirigenten neu aufgestellt hat. Gegründet wurde es am 15. November 1946 als RIAS-Symphonie-Orchester. RIAS, das war „Radio in the American Sector“, die Stimme der freien Welt, wie es im Kalten Krieg hieß. Und damals schöpfte man aus dem Vollen, zum Orchester kamen noch das Kammerorchester und das Tanzorchester, die RIAS Big Band und der RIAS Kammerchor. Überlebt haben nur, wenngleich nicht ohne regelmäßige, durchaus existenzielle Krisen, die aber immer die Finanzierung, nie die Qualität betrafen, das Sinfonieorchester und der Chor.
Denn schon in den Fünfzigerjahren zogen sich die Amerikaner aus der Finanzierung zurück. Neuer Träger wurde der Sender Freies Berlin (heute: rbb). Ab 1956 hieß man Radio-Symphonie-Orchester Berlin, kurz: RSO. Und nach der Wiedervereinigung wollte man mit dem anderen, dem östlichen, dem originalen, ältesten, 1923 gegründeten Rundfunk Sinfonieorchester nicht verwechselt werden und nannte sich staatstragend Deutsches Symphonie-Orchester (DSO).
Von 1948 an stand dem Orchester ein junger, schnell legendärer Chefdirigent vor: Ferenc Fricsay, nach dem immer noch der Probensaal benannt ist. Nach Fricsays frühem Tod 1963 übernahm der junge amerikanische Star Lorin Maazel die Leitung. Auf ihn folgten der ganz junge Riccardo Chailly (1982–1989) und Vladimir Ashkenazy (1989–2000). Dann gab es bis 2006 die kurze, aber intensive Ära unter dem heutigen Ehrendirigenten Kent Nagano und das noch kürzerer Zwischenspiel mit Ingo Metzmacher (bis 2010). Es folgte der Russe Tugan Sokhiev, der gemeinsam mit dem Orchester wuchs, aber schließlich seiner patriotischen Pflicht als Musikchef des Moskauer Bolschoi Theaters den Vorzug gab und in diesem Sommer abtrat. Jetzt wartet alles auf den nächsten Shooting Star, der ab September 2017 die Stabführung übernimmt: der Engländer Robin Ticciati.
Ansonsten geht es dem Orchester als einem der immerhin fünf sinfonischen Klangkörper der Deutschen Hauptstadt gut. Es gibt gegenwärtig keine Finanzierungsdiskussionen, man ist medial und global präsent, hat einen so aktiven wie spendablen Freundeskreis, übt sich in vielen Stilen und Handschriften, auch in neue Präsentationsformen vom Casual Concert bis zum gern auch international exportierten Symphonic Mob. Zudem hat es zu einer Reihe so illustrer wie höchst unterschiedlicher Maestri intensive Arbeitsbeziehungen aufgebaut. So konnte man jetzt kann entspannt das Jubiläum schon mal vorfeiern – mit einem originellen Dreierkonzertschritt.
Zunächst einmal gab es – unter Berufung auf die amerikanischen Wurzeln des Orchesters und mit einem US-Dirigenten, der sich das Werk so sehr gewünscht hatte: „Vanessa“, Samuel Barbers erste Oper von 1958, ein packender Dreiakter über drei rätselhafte Frauen, Mutter, Tochter, Nichte und einen zwielichtigen Mann in einer skandinavischen Einöde, wird in Amerika immer weder mal gespielt. In Europa ist sie eine Rarität. Die semikonzertante Vorstellung war natürlich die Berliner Erstaufführung. David Zinman entfesselt gemeinsam mit Erin Wall (Vanessa), Virginie Verrez (Erika) und Catherine Wyn-Rodgers (alte Baronin) einen sämigen emotionalen Sog. So gelingt ein tönendes Douglas-Sirk-Melodram, mit viel Stilgefühl und Sinn für die instrumentalen, das Personengeflecht stumm verdichtende Momente. Keiner ist hier wirklich sympathisch, und doch geht man dankt der dichten, klangsinnlichen, nie den Hafen der Tradition verlassenden Partitur unverzüglich mit.
Dann folgte das eigentliche, öffentliche Festkonzert mit Kent Nagano am Pult, ebenfalls im Stammhaus Philharmonie. Nach Fanfare, Festreden und Filmimpressionen stehen in der ersten Hälfte das Orchester und seine Individuen im Mittelpunkt. Für die Moderne, ja das Brandneue, das hier regelmäßig gepflegt wird muss die erste Kammersymphonie von Arnold Schönberg herhalten, makellos und mit Verve aufgeführt von 15 meisterlichen Solisten. Angeführt vom Konzertmeister Wei Lu dialogisieren anschließend in Joseph Haydns hinreißender Sinfonia concertante für Oboe (Viola Wilmsen), Fagott (Karoline Zurl), Violine und Cello (Mischa Meyer) vier Solisten mit einem etwas größeren Orchester.
In der zweiten Hälfte tritt ein weiter vervollständigter Klangkörper zurück hinter dem in erzernem, gleichwohl spannungsvollen Tastentritt sich sehr langsam durch Robert Schumanns Klavierkonzert bewegenden, nur noch selten am Piano zu erlebenden Mikhail Pletnev. Auch Kent Nagano kann da nur behutsam folgen: ein Monument, sich selbst überlassen. Die volle Mannschaft aber sprüht dann Weltuntergangsparfüm über ein rauschhaftes Anti-Finale mit Maurice Ravels in Menetekelstrudeln sich verschlingendem La Valse. Und beim anschließenden Empfang rutscht dann selbst dem sonst gern so sibyllinisch einsilbigen Nagano höchstes Lob heraus: „Bei euch ist nichts unmöglich. Ihr habt immer für alles eine musikalische Lösung!“
Ein Jubiläum übrigens, das durchaus auch von Politik und den vier Geldgebern ernst genommen wurde. Denn sie waren alle da, Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller („alles abgesichert“), Kulturstaatsministerin Monika Grütters („unsere „Hoffnungsträger“), Deutschlandradio-Intendant Willi Streul und die neue rbb-Intendantin Patricia Schlesinger. Auch Bundestagspräsident Norbert Lammert, ein besonders treuer Freund des Orchesters, gab sich an diesem Abend die Ehre – und am nächsten ebenso. Denn da baten auch noch Bundespräsident Joachim Gauck und Daniela Schadt zu einer Wandelkonzert-Soiree ins Schloss Bellevue.
„Wir sind froh, Sie zu haben und hören zu können“, sagte das deutsche Staatsoberhaupt zur Begrüßung und setzte mit einem Bekenntnis zur Kulturnation nach: „Ich weiß, es geht uns gut, solange wir solche Institutionen haben, die wir ausreichend fördern und die uns erlauben, das klingenden Erbe dieses Landes zu bewahren.“ Ganz im Gegensatz etwa zu den Brexit-Britten, wo gerade die Pläne für einen neuen, endlich guten Londoner Konzertsaal, mit dem Simon Rattle dorthin zurückgelockt worden war, fallen gelassen wurden.
Wer dann bei den drei Konzerthörergruppen das Glück hatte, mit den preußischblauen Bändchen im Präsidententross zu landen, der konnte vor den köstlichen Flying-Buffet-Häppchen (Kürbis, Gams und Ochsenbäckchen, der präsidiale Koch muss gegenwärtig ein Süddeutscher sein…) auch die sinnvollste Werkfolge genießen: Wagners Siegfried-Idyll mit Kent Nagano im großen Saal; Mozart, Poulenc und Spohr mit dem Polyphonia Ensemble im Langhanssaal mit seinen grauen Stuckmarmorsäulen; schließlich das sich reizvoll vor den Günther-Uecker-Nagelbildnissen in der Galerie abhebende DSO-Blechbläserquintett mit Lalande, Saint-Saens und Spirituals.
Schloss Bellevue war an diesem schönen, espritvollen Abend wie eine leuchtende Schneekugel der Hochkultur – in einer immer mehr sich den Populisten ausliefernden Zeit…
Der Beitrag 70 Jahre Deutsches Symphonie-Orchester: selbst Bundespräsident Gauck feiert mit erschien zuerst auf Brugs Klassiker.