Ein besonders schöner Ersatz für eine lamentable Situation: Fünf Spielzeiten ist das Potsdamer Schlosstheater wegen Renovierung geschlossen, deshalb gibt es die Potsdamer Winteroper, jene vom Hans-Otto-Theater und der Kammerakademie gestemmte Erinnerung an die Musiktheatersparten-Vergangenheit vor Ort, eben als szenisches Oratorium in der Friedenskirche. Und nach dem Riesenerfolg mit Händels „Jephta“ 2013 als Auftakt der Reihe, kehrte man – mit Mozarts „Betulia liberata“ und Alessandro Scarlattis „Cain und Abel“ als Zwischenspiel – jetzt zu Händel zurück. Das so abstrakte wie konkrete, freilich nach einem allgemeinen Trauerreflektion in den beiden Folgeteilen szenisch eigentlich nach Heuschreckenplagen und Rotes-Meer-Durchquerung verlangende Oratorium „Israel in Egypt“ von 1739 stand diesmal auf dem Spielplan. Darin hat der Chor den bedeutendsten Part, die vier Solisten sind vor allem als Allegorien präsent.
Keine leichte Vorgabe für die junge, eben mit dem Grazer Ring-Award ausgezeichnete Regisseurin Verena Stoiber. Ihre Bühnenbildnerin Susanne Gschwender hat ihr längs in den neobyzantinischen Kircheninnenraum einen begehbaren hölzernen Raumteiler gestellt. Ein Mischung aus Steg und Mauer, gebaut aus Särgen, wie man bald bemerkt, wenn das vorzügliche, in wärmendweiße Schlabberunterwäsche und graue Umhänge gekleidete Vokalconsort Berlin samt Vokalakademie Potsdam als Israeliten einzieht: Sie haben die letzten, noch fehlenden Totenkisten dabei, während die Solisten ebensolchen entsteigen, um die Prinzipien Religion, Monarchie, Kirche und Militär verkörpern.
Das Publikum sitzt sich zweigeteilt, hat so den Chor hinter den Seitenemporen als Kommentator im Blick, aber auch den ägyptischen Pharao, der auf der Kanzel Platz nimmt; daneben leuchtet unter dem immerwährend Altarbaldachin als Teil der Friedirch-August-Stühler-Raumausstattung verheißungsvoll der Heilige Geist als Taube. Da werden bei der Schilderung der zehn Plagen gleich bündelweise (tote) Babypuppen verteilt, die Gräuel in der Verbannung scheinen aber auch mit religiösem Fanatismus unter schwarzen Kapuzen und einer Hexenverbrennung auf, die ein kriegerischer Gott vorantreibt.
Die dazwischen gestreuten, nicht wirklich klärenden Zitate der syrischen Lyrikerin Hala Mohammad können, müssen aber nicht sein. Grundsätzlich verdeutlicht die autarke Regie wenig, verrätselt bibelfest, abstrakt und zeitlos weiter, aber das mit starker Bildkraft. Welche der wunderbar engagierte Chor optimiert, ebenso die eigenwilligen Solisten: Sopranistin Marie Smolka im Harnisch, der engelsflügelbewehrte Countertenor Benno Schachtner, Tenor Florin Feth, der am Ende als Militär die Krone der Macht erringt, während der Bass Georg Lutz noch den Toten ihren Jenseitsobulus klaut.
Von schräg vorne spielt die klangprächtige Kammerakademie Potsdam dazu, unter der fliegendärmeligen Leitung von Konrad Junghänel. Der passt mit seinem Haaren optisch wie die Nazarener-Version eines Donatello-Reliefs perfekt ins Ambiente, er dirigiert aber auch mit Energie, Spannung und fein abgeschmeckten Nuancen einen kraftvoll aufbrausenden Händel, der den Raum niemals als Kompromiss hören lässt.
Und so ist man sofort gepackt von der Kühnheit der Harmonien, der strengen, gar nicht altmodische Polyphonie, den überraschenden Doppelchören der allzu selten gehörten Partitur. Die sind weder die Guten noch die bösen, menschlich, allzu menschlich. Und das ist in seiner Affektdarstellung einfach ein ganz anderes Erfahren, als in der normalen Kirche oder gar im Konzertsaal. Die man gern nächstes Jahr noch einmal wiederholt – bevor es hoffentlich zeitgerecht ins angestammte Theaterambiente zurückgeht.
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