Heute gibt es nicht nur einen Klassik-Echo für Paavo Järvi als Dirigent der „Besten zeitgenössischen Orchesteraufnahme des Jahres“ für seine 1. Sinfonie von Henri Dutilleux mit dem Orchestre de Paris. Der 52-jährige Este mit amerikanischem Pass ist zudem als erst zweiter Dirigent nach Simon Rattle für seine langjährigen Aufnahmebemühungen mit der Sibelius-Medaille ausgezeichnet worden; im Jahr von dessen 150. Geburtstagsjubiläum eine besondere Ehre. Und jetzt wurde er auch noch bei der englischen Phono-Zeitschrift „Grammophone“ von den Lesern zum „Künstler des Jahres“ ausgerufen. Also mindestens drei Gründe für ein Interview.
Manuel Brug: Wie kommt es, dass Sie inzwischen fast so ein CD-König sind wie Ihr Vater Neeme Järvi?
Paavo Järvi: Das Beste, was mir passieren konnte, wer der Zusammenbruch der großen Firmen. Ich kann tun, was ich will, die Finanzierung ist eigentlich leicht, man muss nur mit den Organisationen zusammenarbeiten und die wollen sichtbar sein, also finden sie Wege, es zu bezahlen. Und so kann ich alles machen, was ich mit den diversen Orchestern machen möchte, ich drücke sie aber auch sehr in die Richtung, was wichtig ist. So sind dieses Jahr jetzt bei Erato die Schostakowitsch-Kantaten mit den Estnischen Nationalen Sinfonieorchester erscheinen, wo ich ja nach wie vor als Berater tätig bin. Mit dem Orchester de Paris kam bei der gleichen Firma Dutilleux’ 1. Sinfonie und ein Geigenwerk mit Christian Tetzlaff heraus, gerade eben auch Rachmaninows 3. Sinfonie. Schostakowitschs Siebte habe ich für Pentatone mit dem Russischen Nationalorchester eingespielt. Nach sieben Jahren ist mein Mahler-Zyklus auf Video mit dem hr-Sinfonieorchester vollendet, die 6. und 4. Bruckner-Sinfonie sind bei Sony erschienen und ein kompletter Nielsen-Zyklus wartet auf seine Veröffentlichung. Mit dem NHK Orchester gibt es in Japan eine Strauss-CD. Prokofiews 2. Violinkonzert mit Viktoria Mullova bei onyx, aber auch mit Hilary Hahn das 4. Vieuxtemps- und das 4. Mozart-Konzert bei der Deutschen Grammophon sowie das Prokofiew-Cellokonzert mit Steven Isserlis für Hyperion dokumentieren für mich wichtige Künstlerpartnerschaften. Das sind sensationelle, auch sentimentale Erinnerungen, ich bin da sehr stolz drauf. Und dann gab es noch eine Porträt-CD mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen mit drei neuen Brahms-Tänzen. Also wirklich – ein erfülltes CD-Jahr.
Brug: Was gibt es als nächstes mit der Kammerphilharmonie?
Järvi: Einen Brahms-Zyklus, den spielen wir Wiesbaden ein, die dortige Akustik passt gut zu dieser Musik. Mein Leben ist also nicht langweilig, gerade nicht mit diesem Orchester, mit dem ich wirklich zu einer besonderen Einheit verwachsen bin. Auch Schubert ist in Planung, der wird zwar gegenwärtig viel aufgenommen, aber er braucht das immer noch. Schubert springt dich nicht an, da muss man was tun. Dann vielleicht auch noch Mendelssohn, doch steht ist für mich aktuell nicht so im Mittelpunkt, eher möchte ich etwas mehr Haydn machen. Mendelssohn ist gefährlich, wenn man vom Barock kommt, ich finde es von der spätromantischen Seite besser. Es ist auch witzig, dass heute alles in Zyklen gemacht wird…
Brug: Das hr-Orchester ist Vergangenheit, Sie hören im Sommer 2016 in Paris auf, auch in Amerika gibt es gegenwärtig keine beruflichen Bindungen mehr. Verändert sich Ihre Karriere?
Järvi: Tokio, Bremen und Estland bleiben, ich will aber mehr Konzentration und ich will die Japaner berühmter machen. Ich möchte zudem nicht mehr so viel gastieren, man bekommt dabei eben stets andere Klangresultate, als wenn man lange mit einem Orchester etwas entwickelt. Musiker ändern sich nicht so sehr für einen Gastdirigent, man kommt ihm entgegen, aber es ist anders, als wenn es Kontinuität gibt. Es ist immer ein Kampf auch für den auf dem Podium. Man hat stets neue Persönlichkeiten vor sich, es kostet Energie. Am Anfang ist das toll, aber irgendwann möchte man sich konzentrieren.
Brug: Wo ist Ihre private Basis?
Järvi: In Palm Beach, Florida. Wasser und Sonne, das ist mein amerikanisches Erbe. Ich bin am Strand und wenn ich hierher zurückkomme, dann nehme ich die Kinder aus der Schule, die ist privat und wenn man viel zahlt, kann man das auch machen. Dann sind wir alle etwa sehr intensive fünf Tage zusammen, dann geht es wieder auf die Reise.
Brug: Warum wird jetzt für Sie Japan wichtig?
Järvi: Ich habe mit dem NHK Orchester einige der besten Erfahrungen meines musikalischen Lebens erlebt. Das möchte ich vertiefen. Japanische Musiker sind in Philadelphia, Chicago, Berlin kein Thema mehr, ich möchte jetzt den anderen Weg gehen. Und das asiatische Publikum ist sehr erfahren und seriös, weil es nun schon über einige Generationen eine Tradition mit westlicher Musik hat. Es ist etwas konservativ, das stimmt, und genau das möchte ich aufbrechen. Und ich rede zum Beispiel Deutsch mit dem NHK-Konzertmeister. Die meisten der Musiker haben in Europa oder den USA studiert und viele halten dort auch noch Positionen. Es ist eine tolle Mixtur. Es gab und gibt ja in Japan so viele europäische Dirigenten, Sawallisch, Wand, die Tradition ist stark. Gegenwärtig arbeiten in Tokio Eliahu Inbal, Gennady Rozhdestvensky, Daniel Harding, Dan Ettinger, Christian Arming, mit denen möchte ich mich verstärkt austauschen. Die Zukunft der Klassik liegt nun einmal in Japan, China und Korea.
Brug: Und wie erleben Sie ihre letzte Saison in Paris?
Järvi: Sehr entspannt. Wir sind alle sehr glücklich über die neue Halle. Die Philharmonie de Paris ist ein totaler Erfolg, alles immer ausverkauft. Endlich haben wir alle eigene Garderoben, sogar Wifi. Alles ist nahe, das Orchester fühlt sich wohl. Eben nehme ich noch einen Sibelius-Zyklus für CD mit dem Orchestre de Paris auf. Auch Shanghai hat übrigens eine neue tolle Halle, akustisch ebenfalls von Toyota betreut.
Brug: Was soll die Zukunft bringen?
Järvi: Sie soll so bleiben wie jetzt, das macht mich glücklich, ich habe keine weiteren Ambitionen. Ich leite zwar keines der ganz großen, superberühmten Orchester, ok, aber ich kann alles machen, wie meine ziemlich große Diskographie beweist. Mit den Berliner Philharmonikern beispielsweise bin ich nicht sonderlich verbunden. Es ist eben keine Heirat. Wir funktionieren, aber wir vereinigen uns nicht zu einer besonderen Beziehung. Das muss man auf beiden Seiten akzeptieren. Das ist wie in einer Ehe. Es ist trotzdem schön, bei ihnen zu sein, sie sind ein gut gepflegtes Orchester, und man hört: Da ist ein Meister im Haus. Auch in so einer schwierigen Situation wie nach der ersten, gescheiterten Chefwahl. Ich hatte am Tag danach mit ihnen Probe, aber alle waren total dabei und konzentriert. Auch die Berliner Staatskapelle macht mir Spaß, ein so ganz anderes Orchester als die Philharmoniker. Aber die sind einfach sehr smart. Dorthin graduiert man, man startet nicht, muss anderswo gelernt haben.
Brug: Was sagen Sie zu Simon Rattle und dem London Symphony Orchestra?
Järvi: Ein Engländer soll nach England, das ist wichtig für die Musikkultur und er kann als einziger den Engländer beibringen, dass sie eine Konzerthalle in London brauchen.
Brug: Auf was blicken Sie zurück?
Järvi: Wo ich als Chef hingegangen bin, da war ein Potential, das ich verbessert habe – in Bremen, Cincinnati, Frankfurt, Paris – und in Japan hoffentlich auch, alle spielen besser. Das ist keine Ego-Geschichte, ich will nicht arrogant sein, aber es stimmt. Man hat mir abgeraten, Bremen zu übernehmen, das sei kein Platz, um Musik zu machen, sich zu entwickeln, und schauen Sie, was daraus geworden ist! Das ist nichts Künstliches, das ist eine wirklich wunderbare Partnerschaft, man legt dort alles um mich herum, wir lieben uns.
Brug: Haben Sie keine Lust auf mehr Oper?
Järvi: Die mache ich bald an der Mailänder Scala, „Don Giovanni“, drei Opern sind auch beim NHK geplant. Donald Runnicles hat mich gefragt, ob ich was an der Deutschen Oper machen möchte. Ich liebe Oper, aber sie ist die große Kunst des Kompromisses, ich werde versuchen, mich dem auszusetzen. Ich bin in einem Opernhaus aufgewachsen, ich mag die Atmosphäre.
Der Beitrag Interview Paavo Järvi: “Ich habe alle besser gemacht!” erschien zuerst auf Brugs Klassiker.