Man kann sich trauen. Wenn man es kann. Und Jean-Christophe Maillot hat sich getraut. Weil er es kann. Schon vor 15 Jahren. Da hat er relativ kurz nach der Eröffnung des neuen, teilweise unterseeischen Kongress- und Veranstaltungsforums Grimaldi in Monte Carlo in der Salle des Princes für seine Les Ballets de Monte Carlo den Tschaikowsky-Klassiker „Dornröschen“ neu gedacht und damit eines seiner bisher größten Ballette realisiert. Wie schon bei den Klassikern „Nussknacker“ und „Cinderella“ und später beim „Sommernachtstraum“ und bei „Schwanensee“ hat er das Stück aktualisiert, umgestellt, gekürzt, zugespitzt, psychologisiert, umbenannt: Von der „Belle au bois dormant“ des französischen Titels blieb nur die „Belle“ übrig. Und das alles gipfelte in der berühmtem Auftrittsszene des Dornröschens mit dem anschließenden, als hohe Kunst der Partnerbalance zelebrierten Rosenadagio.
Bei Maillot kommt Belle in einer durchscheinenden Plastikkugel eine Schräge herunter: Symbol ihrer abgeschotteten Unschuld, aber eben auch ihres Wegseins von der Welt, so wie ihre ängstlichen Eltern, die sie so sehr ersehnten und erst so spät bekommen haben, sie vor allem Übel bewahren wollten. Anschließend wird sie von einer anonymen Masse von Kavalieren bedrängt, die ihre transparente Kugel betatschen, sie darin drehen. Allen voran ein freakiger Typ mit seltsamen Ausbuchten am Kopf: Carabosse, gleichzeitig die böse Fee wie die dominante Mutter des Prinzen aus dem Nachbarreich. Die Kugel erschlafft, Belle kommt an die Luft, sticht sich, fällt in den Schlaf. Nie wurde das deutlicher auch als Defloration inszeniert.
Im Dezember 2001 trug Bernice Coppieters, Maillots damalige raspelkurzblonde Muse, ein hautenges Spitzentrikot als Belle. Jetzt ist sie zunächst in weiblicheren Tüll gehüllt und wird von einer russischen Spitzenballerina getanzt: Olga Smirnova, Star des Bolschoi Balletts. Für sie und den Primoballerino Semyon Chudin hat Maillot 2014 „Der Widerspenstigen Zähmung“ an der russischen Elitetruppe choreografiert – einen der erfolgreichsten Abendfüller eines nicht-russischen Tanzschöpfers. Und beide sind jetzt auch bei der Wiederaufnahme von „Belle“ dabei. Er als biegsamer Prinz, der von seiner Mutter unterdrückt, vom schwachen Vater nicht unterstützt wird. Und der trotzdem sein ideales Mädchenbild sucht, so wie es ihm die gute Fee in einer Kristallkugel gezeigt hat.
Kugeln gibt es immer wieder in diesem Stück, etwa wenn die andere Königin endlich schwanger wird, und sich eine Art Fruchtblase aus ihrer Krone zeichenhaft wölbt. Ihr Nabel ist, wie bei den meisten Frauen, von Kostümstoff ausgespart: Zeichen weiblicher Fruchtbarkeit, wo sich eben lange nichts tut, dann aber doch. Maillot und sein aus der bildenden Kunst kommender Bühnenbildner Ernest Pignon-Ernest haben auch das Ambiente genial kreiert. Reduziert auf Schwarz und Weiß, wellig und eckig, mediterrane Renaissancebögen und monströs bedrohliche Stacheln als Dornenhecke. Das ist so effektiv wie schön.
Neu sind jetzt freilich, neben einigen choreografischen Wendungen in den präzise die beiden Reiche charakterisierenden Gruppentänzen, die Kostüme von Jérôme Kaplan. Raffinierte Schnürrüstungen und eine Art Korsett-Harnisch gibt es für den Prinzen in dessen freudlos-zwanghafter Atmosphäre aus Gefühlsunterdrückung und Unterwerfung. Der geschmeidige Chudin begehrt immer wieder dagegen auf, doch noch fehlt ihm das Objekt seines Widerstands. Das wird dann Belle, die in einer helle, freudigen, von Gauklern in eiscremebunten Kleidern bevölkerten Umgebung heranreift. Auch wenn sie hier fast ganz auf die üblichen russischen Kunststücke verzichten muss, man spürt in Smirnovas lyrischen, extrem präzisen Bewegungen wie anspruchsvoll auch dieser weiche Fluss flexibel gehalten werden muss. Das ist mädchenhaft und allürevoll zugleich, die Russin hat eine durchscheinende Ausstrahlung, die sofort die Blicke zu bannen weiß. Auch im bedeutungsvollen Spiel ihrer Arme. Mit ihrem Partner ergänzt sie sich in Rhythmik und Präsenz ideal. Was dem Charakterspiel mit den Rollen enorm zu gute kommt.
Maillot ist, unterstützt von dem kraftvoll dirigierenden Nicolas Brochot am Pult des klangfeinen Orchestre Philharmonique de Monte Carlo, ein so individueller wie kluger Bewegungsfinder und Erzähler. Nie verliert er den Fokus der realistischeren, aber stets märchenhaften Geschichte. Er bewahrt durchaus den Geist des Originals, aber er modernisiert ihn, erfindet ihn auf selten so einleuchtende Weise neu und variiert ihn doch auch. Und seine auf ihn eingeschworene, junge, typenstarke Truppe setzt dies so motiviert wie energetisch um. Ein hinreißendes Seevergnügen. Das schließlich in eine großen, riskanten Liebesadagio gipfelt. Obwohl Maillot viel Divertissement streicht, nimmt er sich die Freiheit, am Ende Tschaikowskys Romeo und Julia-Fantasieouvertüre einzufügen. Die Liebenden werden hier vom Idealtyp zu individuellen Figuren, statt der Nummernrevue ist eine Entwicklung zu bestaunen, auch ist zu sehen, wie stark die beiden Startänzer hier in Maillots moderner, dabei so fein und klar wirkenden Tanzsprache aufzugehen.
Der 56-jährige französische Glatzkopf ist seit fast 25 Jahren der glanzvolle Tanzbotschafter Monacos. Inzwischen herrscht er über die 50-köpfige Truppe, ein Festival und die einst von Fürstin Gracia gegründete Schule. An die sowie an die Vergangenheit Monte Carlos als Winterquartier der Ballets russes wollte Prinzessin Caroline anknüpfen, als sie in den Achtzigern Les Ballets de Monte Carlo neu aufstellte. Seit 1993 hat sie in Maillot ihren Traumprinzen gefunden. Der ist stolz auf die Unterstützung der kunstinteressierten Prinzessin. Schon nach wenigen Vorstellungen zu Hause ist man aber stets wieder auf Tournee. Das Ballett ist neben dem Orchester der wichtigste Kulturbotschafter des Zwergstaates, gastiert weltweit als Kulturaushängeschild der Monegassen. Im Sommer soll es eine große Fête de la Danse geben, bei der die Opéra Garnier, das Foyer wie auch der Casinovorplatz 24 Stunden lang mit jeder Art von künstlerischer Bewegung bespielt werden.
Und heute ist Jean-Christophe Maillot, der einst bei John Neumeier in Hamburg seine Tänzerkarriere gestartet hat, in Deutschland bei einem seiner seltenen Auftritte als Gastchoreograf zu erleben. Er hat kaum Zeit dafür, die Truppe an der Côte d’Azur braucht eigentlich seine ganze Aufmerksamkeit und Energie. Doch jetzt hat er dem Berliner Staatsballett, das so eine qualitätsvolle Repertoireauffrischung dringend benötigt, sein „Altro Canto“ von 2006 überlassen. Feierlich und besinnlich, ja statuenhaft geht es da zur Barockmusik von Claudio Monteverdi, Biagio Marini und Giovanni Girolamo Kapsberger zu. Rolf Sachs, mit dem Maillot ebenfalls schon öfter gearbeitet hat, gestallte und erhellt mit mehr als einhundert Kerzen in wechselnden Arrangements den ansonsten leeren Bühnenraum. Karl Lagerfeld hat dafür die passenden Kostüme entworfen, wo auch mal Männer Röcke und Frauen Hosen tragen.
Der Beitrag Monte Carlo und Berlin: Jean-Christophe Maillot frischt „Belle“ auf und transferiert „Altro Canto“ erschien zuerst auf Brugs Klassiker.