Sie waren die ersten, obwohl einige der Daten bereits bei der Einpflegung auf die Webseite geleakt worden waren: Die Pariser Oper eröffnete den Reigen der europäischen Musiktheater, die ihre nächste Saison ankündigten. Und dabei durfte sogar das Ballett den Anfang machen. Nun hat auch nicht jeder eine so charmante Directrice wie die ehemalige Solisten Aurélie Dupond, die Opernchef Stéphane Lissner sofort nach seinem fehlgeschlagenen Versuch mit dem bereits nach einer halben Saison fahnenflüchtigen Benjamin Milliepied aus den eigenen Reihen ernannt hatte. Und ihre Ausführungen als Ouvertüre der Pressekonferenz in der Opéra Bastille zeigten zudem: an keinem anderen Opernhaus wird der Tanz auf Augenhöhe behandelt – aber kein Wunder: Ludwig XIV. hatte ja die Académie Royale de la Danse als Urzelle des heutigen Ballet de l’Opéra noch vor der für Musik gründen lassen. Und Dupond wurde dieser historischen Verantwortung auch gerecht, indem sie ankündigte, wieder eine Balance herstellen zu wollen und den klassischen Tanz mehr Raum zu geben. Berlin: zuhören!
Trotzdem gibt es schöne Novitäten vom Ballet de l’Opéra zu vermelden: Es wird einen neuen Abendfüller namens „Play“, von dem extrem angesagten und sehr versatilen Schweden Alexander Ekman geben, der im letzten Jahr auch das Semperoper Ballett in Dresden mit seinem tierisch witzigen „Cow“ beglückt hat. Zudem wird der Japaner Saburo Teshigawara ein neues Werk zum Violinkonzert von Esa-Pekka Salonen entwerfen, das letzterer dirigiert. James Thierrée wird für die öffentlichen Räume des Palais Garnier etwas kreieren, eine Tradition, die Millepied begründet hat. Der junge Spanier Iván Pérez gestaltet ein neues Werk für 10 Männer und Hofesh Shechter denkt sein Stück „The Art of Not Looking Back“ ein wenig neu.
Etwas weniger aufregend als in seinen ersten Spielzeiten geht es in der dritten Saison von Stéphane Lissner zu, die dieser gemeinsam mit seinem Chefdirigenten Philippe Jordan konzipiert hat – in bestem Einvernehmen, auch nicht das übliche an solchen Superhäusern mit den entsprechenden Superegos. Doch das harmonierende Führungstrio präsentierte sich entspannt unter einem goldigen Foyerfoto aus dem Palais Garnier, wo zwischen roten Samtportieren eine Wolke hervorfliegt: „Lassen Sie sich davontragen“, war da als Spielzeit-Motto zu lesen.
Das Opern-Highlight folgt gleich zum Saisonanfang im Oktober. Zum 150. Jubiläum der Uraufführung von 1867 (und erstmals seither) gibt es an der Opéra Verdis „Don Carlos“ fünfaktig auf französisch, mit allen Wiederentdeckungen, die für die Wiener Konwitschny-Produktion vor zehn Jahren gemacht wurden; also noch vollständiger als bei der Geburt. Nur das Ballett fehlt – „aus dramaturgischen Gründen“. Jordan dirigiert, Krzysztof Warlikowski inszeniert, und die Besetzung ist nach heutigen Maßstäben nicht zu toppen: Ildar Abdrazakov, Jonas Kaufmann, Ludovic Tézier und die beiden Rollendebütantinnen Sonya Yoncheva und Elina Garanca. Versprochen wurde auch bereits für 2019 ein weiterer „Don Carlo“ – diesmal in der fünfaktigen italienischen Version.
Die andere wichtige Premiere gilt einem weiteren Baustein in Philippe Jordans voranschreitendem Wagner-Zyklus, „Parsifal“, den Richard Jones, inszenieren wird. Peter Mattei, Andreas Schager, Anja Kampe, Günther Groissböck und Evgeny Nikitin singen die Hauptrollen. Außerdem bringt Ivo Van Hove mit Vladimir Jurowsky am Pult Mussorgskys „Boris Godounow“ heraus; leider wieder in der politisch korrekten Urversion, wo doch auch die üppige Rimksy-Korsakow-Fassung als Teil der Aufführungsgeschichte dieses Werkes wieder mal zu ihrem Recht kommen könnte. Auch hier singt Ildar Abdrazakov die Titelpartie – mit wohlmöglich etwas zu heller Stimme?
Claus Guth, ein erklärter Lissner-Liebling, wird eine neue „Bohème“ herausbringen, die erstmals am Haus Gustavo Dudamel dirigiert, mit Aida Garifullina, die sich bald hier als Rimsky-Korsakows „Schneeflöckchen“ vorstellen wird, als Musetta. Mit Philippe Boesmans’ „Reigen“ zeigt das Studio im Amphitheater ein Werk des späten 20. Jahrhunderts. Und die Saison endet mit einer neuen Produktion von Donizettis „Don Pasquale“, die Damiano Michieletto und Evelino Pido szenisch wie musikalisch verantworten. Es singen Michele Pertusi, Florian Sempey, Lawrence Brownlee und die gehypte Nadine Sierra, die bereits einen Deutsche-Grammophon-Plattenvertrag ergattert hat.
Neben diesen sechs wirklich neuen Produktionen hat der 64-jährige, selbst über seiner Energie erstaunte Stephane Lissner auch noch Schickes eingekauft oder koproduziert: der von Jordan dirigierte Berlioz-Zyklus geht mit „Benvenuto Cellini“ weiter. Die Terry-Gilliam-Produktion der English National Opera war bereits in Amsterdam und Rom zu sehen. John Osborn und Pretty Yende singen.
Nach 10 Jahren Opéra-Abwesenheit kommt William Christie mit Händels „Jephtha“ wieder. Die wirklich schöne Claus-Guth-Arbeit stammt ebenfalls aus Amsterdam. Marie-Nicole Lemieux, Ian Bostridge, Tim Mead und Valer Sabadus gehören zum Ensemble. Ein drittes Mal ist Amsterdam in Paris dabei als Urauftraggeber von Peter Sellars‘ und Kaija Saariahos arg boutiquenschickem „Only the Sound Remains“ mit Philippe Jaroussky. Und natürlich muss Patrice Chéreaus weitgereistes, von Lissner 2007 bei den Wiener Festwochen herausgebrachtes „Aus einem Totenhaus“ von Leos Janacek auch noch an der Seine gezeigt werden. Neuerlich dirigiert Esa-Pekka Salonen, der von Pierre Boulez übernommen hatte. Dazu gibt es eine sicher wieder exzellente Ausstellung als Zusammenarbeit von Nationalbibliothek und Opernarchiv im Museum des Palais Garnier.
Noch ein Zyklus: Philippe Jordan spielt mit dem Orchester eine all-Tschaikowsky-Season (die sicher auf dem einen oder anderen Tonträger verewigt werden wird). Und auch die nicht unumstrittene 3e Scène als Internet-Plattform mit eigenständigen Künstlervideos geht weiter. Immerhin über 1,4 Millionen Mal wurden die bisher geklickt. Alles schick also an der Opéra de Paris, wo bei einem sich wirklich nicht anbiedernden Spielplan die Besucherzahlen auf 92,5 Prozent Auslastung steigen und der Staat das Haus einigermaßen ausreichend alimentiert. Eine Million Besucher erwartet man für die nächste Saison. Und sogar die lange fehlenden Salle Modulable, ein immer noch seit 1989 leerer Raum für 800 Zuschauer in der Opéra Bastille für multifunktional zeitgenössische Bespielungen, endlich ausbauen will.
Der Beitrag Endlich „Don Carlos“ französisch komplett in Paris: die Opéra-Saison 2017/18 erschien zuerst auf Brugs Klassiker.