Eine Priesterfrau geht fremd, wird am Ende wieder mit Bibelversen in den Schoß der Kirche, aber wohl nicht den des Gatten aufgenommen. Das ist einer jener „neuen grandiosen, schönen, abwechslungsreichen, gewagten Stoffe … und zwar gewagt bis ins Extrem“, nach denen der endlich als Komponist arrivierte Giuseppe Verdi um 1850 seine Librettisten ersuchte. Und es wurde draus – neben „La Traviata“ – sein einzig ungeschminkt zeitgenössisches, sich in seinen sozialen Analysen und Anklagen nicht hinter dem gnädigen Faltenwurf einer fernen Vergangenheit versteckendes Werk.
Doch während „Traviata“ für Furore sorgte und den Weltruhm ihres Schöpfers endgültig begründete, tut sich das kurz zuvor uraufgeführte, unmittelbar packende Priesterdrama „Stiffelio“ im Repertoire immer noch schwer. Drei Tage vor der Premiere im damals österreichischen Triest wurde das Werk von der Zensur stark verstümmelt. Die Partitur galt lange als verloren, bis Anfang der Neunzigerjahre weitere Dokumente in Privatbesitz auftauchten. Auf Basis dieser Bruchstücke und der im Archivio Ricordi dokumentierten Briefwechsel konnte die Urform des „Stiffelio“ schließlich rekonstruiert werden. Erst seit 1993 wird die Oper in ihrer authentischen Gestalt wieder gespielt, aber schon vorher war die Titelfigur eine Paradepartie für dramatische Tenöre wie Plácido Domingo, José Carreras oder José Cura, gerne auch als Vorstufe zum Otello.
Gerade „Stiffelio“ erweist sich als spannendes Erkenntnisfeld für den fortgeschrittenen Hörer, der den hier kühn experimentierenden, um dramatische Glaubwürdigkeit ringenden Verdi erleben kann; gleichzeitig mangelt es der Oper, dass muss man ehrlich zugestehen, im Vergleich zu den folgenden Stücken trotz aller Avantgarde-Momente an wirklich zündenden, gar einprägsamen Melodien. „Stiffelio“ ist ein extrem reduziertes, auf drei Personen eingedampftes Werk, mit dem typisch fordernden Verdi-Baritonübervater, einem zwischen Sinn und Sinnlichkeit, Glaubensbewahrer und Ehemann zerrissenen Tenor und einem passiv leidenden Sopran; angesiedelt zudem in einem engen, regressiven Milieu. Ein emotional geschlossenes System also. Selten sah der sowieso schon düster gestimmte Giuseppe Verdi pessimistischer auf das Opernmenschengeschlecht.
Im Verdi-Jahr 2013 stand „Stiffelio“ in Deutschland immerhin an den Vereinigten Bühnen Krefeld-Mönchengladbach auf dem Spielplan, seither gab es überregional beachtete Inszenierungen in Mannheim und Frankfurt am Main. Doch nicht in Berlin. An den drei Opernhäusern streitet man zwar beständig um die nächste Wagner-Neuinszenierung und wird eine von drei „Traviata“-Produktionen gleich wieder durch die nächste ersetzt, aber weder hat es hier eine systematische Verdi-Pflege gegeben, noch wurde bisher etwa der original französisch „Don Carlos“ hier gespielt. Geschweige denn „Stiffelio“.
Zum Glück gibt es Enthusiasten wie beispielsweise die Berliner Operngruppe. Die rührige, aus Studenten, ambitionierten Laien und enthusiastischen Profis zusammengesetzte Entdeckertruppe um den Dirigenten Felix Krieger hat so seit 2010 in jährlicher Folge sechs Belcanto-Opernraritäten gestemmt, meist in semikonzertanter Form. Zwar liegen Welten zwischen deren Möglichkeiten und denen der längst auch als CD-Label weltweit etablierten Opera Rara-Company, aber man kann sich trotzdem sehen und hören lassen. So wie 2015 mit Donizettis launiger Jodel-Farce „Betly“, sogar eine deutsche Erstaufführung.
Das fand wohl auch die Bertelmann AG die nun die rührige Initiative bei der Berliner Erstaufführung des „Stiffelio“ am 1. Februar um 20 Uhr im Berliner Konzerthaus unterstützt. Renommierte Künstler wie Roberto De Biasio, Maria Katzarava, Alfredo Daza und Francesco Ellero d’Artegna sind aufgeboten, für die szenische Einrichtung sorgt Thilo Reinhardt. Für die Produktion der Berliner Operngruppe reiste Felix Krieger eigens ins seit 1994 zu Bertelsmann gehörende Ricordi-Archiv nach Mailand, in dem neben den zugehörigen Briefen auch Teile der Partitur überliefert sind, um sich intensiv mit den dortigen Dokumenten auseinanderzusetzen.
Das legendäre Archivio Storico Ricordi birgt Artefakte aus 200 Jahren italienischer Operngeschichte und gilt als eine der weltweit wertvollsten Musiksammlungen in privater Hand. Im Bestand befinden sich heute 7800 Originalpartituren von mehr als 600 Opern – darunter wertvolle Originalhandschriften von Giuseppe Verdi und Giacomo Puccini – sowie rund 10.000 Libretti, an die 6000 historische Fotografien, zahlreiche Kostümzeichnungen sowie die komplette Geschäftskorrespondenz des Verlagshauses Casa Ricordi von 1888 bis 1962. Nachdem der in der Biblioteca Nazionale Braidense, unterhalb der berühmten Brera Galerie deponierte Schatz lange im Dornröschenschlaf gelegen hatte, lässt Bertelsmann gegenwärtig die Archivalien umfassend katalogisieren, digitalisieren und vielfach auch restaurieren. Inzwischen können Tausende Dokumente über die frei verfügbare Online-Plattform Collezione Digitale eingesehen und erforscht werden.
Der Beitrag Überfällig: die Berliner Erstaufführung von Verdis Priesterdrama „Stiffelio“ erschien zuerst auf Brugs Klassiker.