„Was haben sie damals in Ägypten gemacht? Und was im Oman?“ Sind die Pass-Fragen des offenbar asiatischstämmigen Grenzbeamten die gleichen wie immer? Oder wollen das die anderen sonst nie wissen? Man stellt alles erst einmal auf den Prüfstand, wenn man gegenwärtig in ein so verändertes Amerika einreist. Aber hat es sich wirklich drastisch verändert, oder nur die eigene Wahrnehmung? Ich bin mit den Bamberger Symphonikern auf US-Tournee. Es ist ihre neunte in 70 Jahren, seit Musiker der nach dem Krieg nach Franken versprengten Deutschen Philharmonie Prag 1946 dieses sehr besondere Orchester gegründet haben. Vierzehn Tage, vier Bundestaaten an der Ost-, Süd- und Westküste, sechs Flüge, neun Konzerte, noch mehr Busfahrten. Alles wie immer, die 120-Personen-Truppe, ein paar Angehörige sind auch mit dabei, ist ein eingespielter Reisekader. Und eben doch nicht. Im Vorfeld gab es keine Probleme, aber die Reisen nach Amerika sind grundsätzlich schon seit einiger Zeit komplizierter und teurer geworden. Über 20 Nationen spielen im Orchester, zum Glück niemand aus jetzt, na ja, in den USA komplizierten. Jeder, der ein Arbeitsvisum brauchte, musste persönlich zum Konsulat nach Frankfurt. Zudem sind Ebenholz und Elfenbein in alten Instrumenten und Bögen nicht mehr erlaubt. Das ist inzwischen Gastierroutine, aber wie steht es um die nicht-musikalische Stimmung in dieser politschwankenden Zeit? Kann man da einfach noch Beethovens 3. und Mahlers 5. Sinfonie aufführen?
Flaggen waren hier immer. Amerika ist rotweißblau, allüberall. Gerade als Deutscher freute ich mich auch ein wenig über diesen unangestrengten, meist fröhlichen, ja naiven Patriotismus. Flaggen schon bei der Einreise, gut, es ist der Liberty Airport in Newark, der feiert zudem 50. Jubiläum. Also steht da eine Mini-Freiheitsstatue, Kokarden sind auf Vorsprüngen gefältelt, Riesen-Star-Spangled Banner hängen von der Decke, und Wimpel stecken auf den Einreiseschaltern. Werden da jetzt nicht gerade einige länger befragt? Gar herausgezogen? Nur das Übliche, das geschieht mir immer, sagt eine japanische Musikerin. Die Wartezeit, die dann aber doch nicht vom hier Üblichen abweicht, vertreiben Fox Sport News und die CNN-Wetterkarte. TV-Appeasement? Paritätisches Umschalten? Alles erscheint auf einmal seltsam.
Die abendlichen Straßen von dem Hotel am Pier, genau auf der anderen Hudson-Seite von Manhattans Finanzdistrikt, sind leergefegt. Alle sitzen beim Super Bowl vor dem Fernsehen. Und genießen in der Pause „The Pepsi Zero Sugar Super Bowl 51 Halftime Show“ – Lady Gaga. Hat die nun zur Toleranz aufgerufen oder nicht? Kann ein klassisches Orchester soviel geballter Pop Power und kommerziell hochgezüchteter Entertainmenttechnik etwas entgegensetzten? Dabei spielt die Lady doch zwischendurch auch einfach nur Klavier…
Sechs Seiten täglich widmet die „New York Times“ inzwischen „The 45th President. The Agenda“. Genug Zeit, mich festzulesen habe ich, der Tag ist frei. Und überall gibt es auch Antworten aus der Klassikwelt. Die amerikanische Orchesterliga hat protestiert, ebenso Deborah Borda, die einflussreiche Intendantin des L.A. Phil, die einen Chefdirigenten aus einem Land hat, das auch nicht eben regierungs-genehm ist: den Venezolaner Gustavo Dudamel. Christoph von Dohnányi, einst Musikchef in Cleveland, erinnert in einem Zeitungsbeitrag gegen Intoleranz an die Widerstandskämpfer in seiner eigenen Familie, seinen Vater den Onkel Dietrich Bonhoeffer, die hin besonders für Ungerechtigkeit sensibilisiert haben. Iván Fischer, der mit seinem Budapest Symphony Orchestra in der Carnegie Hall auftritt, hätte fast einen Cellisten, der auch einen iranischen Pass hat, nicht in Land bekommen und vergleicht das neue Amerika mit dem Ungarn Victor Orbáns; gleiches galt vorher für einen Klarinettisten aus Yo-Yo Mas Seidenstraßen-Ensemble. Das Seattle Symphony Orchestra bietet umsonst ein Konzert mit Musik aus den geächteten sieben Ländern an: „Music Beyond Borders: Vices from the Seven“. Leon Botstein, Musikchef des the American Symphony Orchestra und Präsident des Bard College, hat in der „New York Times“ über die gefährliche Realität von „Alternativen Fakten“ veröffentlicht.
Es ist ein herrlicher Tag. In New York wehen noch viel mehr USA-Fahnen. Oder schaue ich nur aufmerksamer drauf? Und sehe auch umso bewusster die Latinos als Zimmermädchen, Busfahrer, Delie-Koch. Waren es früher auch an der Ostküste so viele? Im Museum of Modern Art hängt plötzlich ein Zaha-Hadid-Bild neben Rousseaus „Schlafender Zigeunerin“, und neben Matisses „Der Tanz“ sitzt eine Schulklasse vor Charles Hossein Zenderoudis goldfarbener Collage „Mein Vater und ich“. Beides sind iranische Künstler. Die Bilder hängen sonst im Depot. Jetzt haben die Kuratoren sie zwischen die ikonischen Meisterwerke gehängt, und erklären mit vielfotografierten Schildern die Umstände.
Nicht weit weg, in der 5th Avenue, ist am Trump Tower alles ruhig. Alle sind in Florida, der Verkehr fließt, die Absperrungen werden nicht gebraucht. Zwischen den Betonpollern kann man sich hin zu Gucci und Tiffany schlängeln, den unmittelbaren Nachbarn. „Loved“ steht da auf einer teuren Robe, die edlen Kinderkleider werden von Katzenpuppen getragen, und die Freiheitsstatue hält einen Diamantring an der brennenden Fackel hoch. Ist das die Subversion der Luxusanbieter? Oder sehe ich nur Metaphern, wo keine sind?
Am nächsten Morgen ist Nebel, es nieselt. Genau richtig zum Warmspielen und einem ersten Konzert als Generalprobe im State Theatre von New Brunswick, Neu-Braunschweig, eine Stunde nach New Jersey hinein. Eine 60.000 Einwohner-Stadt, nur wenig kleiner als Bamberg mit seinen 6000 Orchesterabonnenten. Universität, Hauptsitz von Johnson &Johnson, Michael Douglas ist ein Sohn des Ortes. Hier wurde der alte RKO-Art-Deco-Kinopalast, in dem schon Hedy Lamar Kriegsanleihen verkaufte und Barbara Stanwyck sich vor ihren Fans verbeugte, in den Siebzigern vor dem Verfall gerettet und mit 1.800 Plätzen zur zweitgrößten Bühne des momentan trüben, in Industriebrachen, Autohalden, Meerarmen und Schilfinseln zerfasernden Garden States aufgemöbelt. Broadway Musicals kommen irgendwann auch da an, im Foyer hängen Autogramme von Joan Baez. Pat Benatar wird erwartet, eine Dino-Revue und ein Hunde-Akt. Aber auch das New Jersey Symphony Orchestra spielt – und zwei ausländische Gastorchester. Nach „The Bamberg Symphony“, wie es über die Leuchtreklame des alten Kinovordachs läuft, noch das Staatsorchester der Ukraine.
Die Bamberger haben seit dieser Spielzeit ihren erst sechsten Chefdirigenten, den 36-jährigen Tschechen Jakub Hrůša, der gleichwohl schon in der Musikwelt für Furore gesorgt hat. In dieser Saison hat er freilich nur sechs Wochen für das Orchester übrig. Das wird sich ändern, und diese Tournee war längst vereinbart: mit Christoph Eschenbach, mit dem man vielfach unterwegs war und seit über 50 Jahren musiziert; seit 2016 ist der bald 77-Jährige neben Herbert Blomstedt der zweite Ehrendirigent.
Es gibt zwei Mainstream-Tourneeprogramme, hier müssen Karten verkauft werden, bei jedem ist der aseptische taiwanesisch-australische Geiger Ray Chen dabei. Mendelssohns Violinkonzert spielt er auf Joseph Joachims Stradivari mit vollem Vibrato, stahlhart und technikversiert – aber weitgehend ohne Seele. Es schadet sicher nicht, dass der 28-Jährige bei der Agentur Cami unter Vertrag ist, die auch die Tournee organisiert hat.
In New Brunswick geht Mozarts vollsatte aber durchstrukturierte „Don Giovanni“-Ouvertüre voraus, und als Post-Pausen-Hauptmahlzeit wird Gustav Mahlers 5. Sinfonie serviert. Wie auf einem altmodischen, familienvererbten, schön mattpolierten Silbertablett. Da geht das Publikum richtig mit, denn Eschenbach lässt die böhmischen Quinten schwingen, die Hörner jauchzen, die Klarinetten trillern. Trotz der etwas kompakten Akustik klingt das Stück warm, wach, berührend. Die Bamberger können das, es gehört ihnen als DNA, nicht nur weil sie kürzlich unter ihrem alten Chef Jonathan Nott einen glänzenden Mahler-Zyklus auf CD für Tudor abgeschlossen haben. Dem haben jetzt noch das Lied von der Erde in der Tenor-Bariton-Version folgen lassen – das aber mit zwei Tenören: Roberto Saccà und Stephen Gould.
Das Publikum in New Jersey, fast New Yorker – und doch mehr als nur die 40 Meilen von der Carnegie Hall entfernt, wo am nächsten Abend das gleiche Programm zum Hauptpunkt und -grund der Reise werden soll. Alle Generationen, Stände und Rassen sind vertreten, man mag es bequem, keiner hat sich sonderlich feingemacht. „Aber wir wollen mal wieder gute Musik hören, uns vom täglichen Nachrichten-Desaster ablenken lassen,“ sagen Debbie und John, ein älteres Pärchen. „Früher sind wir auch in die Met gegangen, heute gehen wird dafür ins nächste Kino. Aber ein Orchester, das wollen wir live haben.“ Sind das jetzt Trump-Wähler? Irgendwelche verräterischen Abzeichen oder Fahnen sucht man vergebens. Das aber ist das echte Amerika, ein wenig hinterwäldlerisch schon in New Jersey, aber liebenswürdig, wie immer die nun abgestimmt haben.
24 Stunden später, große Society-Bahnhof. An einem anderen Bahnhof, dem futuristischen von Santiago Calatrava, am World Trade Center Memorial, gibt es übrigens Bamberger Schlenkerla-Rauchbier und andere Sorten, 55 Dollar der Sixpack! An der 57th Street aber fotografiert man sich vor dem Plakat der Bamberger, das goldweißrote Halbrund der 2.800 Sitze ist fast gefüllt. 1983 gastierte das Orchester zuletzt unter Eugen Jochum mit Bruckners Achter in der Carnegie Hall, danach immer in der schrecklichen Avery Fisher, jetzt Geffen Hall im Lincoln Center. „Es ist wie heimkommen“, sagt ein Musiker, schon nach der Probe sind alle glücklich. Es klingt so normal, klar, obwohl man die U-Bahn und die Feuerwehr hört, man wie in einer Kurmuschel sitzt, mit simplen Behelfspodesten.
Hier ist eben ganz viel Aura. Und heute Abend ein wirklich aufmerksames Publikum, angefangen vom Eschenbach-Vertrauten, dem inzwischen in New York lebenden Komponisten Matthias Pintscher, der hinterher vom synchronen, aber nie sterilen Zusammenspiel der Geigen bei der Smetana-Zugabe des „Tanz der Komödianten“ schwärmt. Auch Ray Chen kram nach Resten von Mendelssohn-Seele, und der Mahler türmt sich zum konzentriert zerrissen Seelengemälde, nie larmoyant, straff geführt auch im gern zerfließenden Adagietto.
Man spürt die gelassene Tourneeroutine, aber auch die subtile Aufmerksamkeit, das synergetische Miteinander dieses Klangkörpers. Eine ganz und gar unaufgeregte, nie extreme Interpretation. Eschenbach ist aufmerksam, aber auch generös; die Musiker danken es ihm mit menschlichem Tonfall. Aufatmen, die wichtigste Station im Klassikthronsaal Amerikas ist absolviert. Jetzt ab in die Busse nach New Jersey, Florida wartet. Es muss sich allerdings noch etwas gedulden. Ein Blizzard ist für den Reisetag angekündigt, der Flug nach Daytona wurde bereits gecancelt. Man darf zwar nun doch ausschlafen, aber es muss improvisiert werden. Hinter den Kulissen laufen die Organisationsdrähte heiß: 120 Leute müssen bis übermorgen weiterreisen. Auch wenn es extra kostet…
Der Beitrag Orchesterreise ins Trump-Trauma-Land: Mit den Bamberger Symphonikern in den USA. Teil I erschien zuerst auf Brugs Klassiker.