Man mag vom Grammy, diesem wasserfallartig in undurchsichtigen Kategorien herabregnenden US-Industriepreis mit undurchsichtigen Vergaberegeln halten, was man will, besonders in der Klassik, wo eigentlich meist nur amerikanische Interpreten eine Chance haben. Oder jemand wie die wundervolle Pianistin Mitsuko Uchida, die in den USA eine wirklich große Fan-Base hat. Wenn sie aber jetzt „nur“ als Liedbegleiterin mit einer goldigen Grammophon-Skulptur für eine Schumann-Berg-Aufnahme ausgezeichnet wird, dann heißt das durchaus, der Jury hat auch die daran beteiligte, in den Staaten noch nicht einmal besonders bekannte Sängerin gefallen. Und das ist Dorothea Röschmann! Die ist 49 Jahre alt. Und hat den Übergang von der jugendlich lyrischen Sopranistin geschafft. Und beweist: Auch im Zeitalter der Model-Soprane gibt es eine Zukunft. Was leider längst nicht allen gelingt.
Denn was macht eigentlich das „Freischütz“-Ännchen, wenn für sie die Grillen keine bösen Gäste mehr sind, wenn es Gespensteralbträume und Kettenhunde zu alt geworden ist? Was die „Fidelio“-Marzelline, wenn sie endlich „die Ruhe stiller Häuslichkeit“ – mit oder ohne Jaquino – erfahren hat? Wohin entwickelt sich eine „Rosenkavalier“-Sophie, wenn der stratosphärensilbrige „Gruß vom Himmel“ vokal ein sehr irdischer geworden ist, was wird aus einer „Figaro“-Susanna wenn die arios beschworenen Rosen klanglich schon die eine oder andere Dorn offenbaren? Kurz: Was passiert mit einem lyrischen Sopran, wenn er die Vierzig überschritten hat?
Viele, um nicht zu sagen, die meisten verschwinden dann von der Bühne, in den Zeiten des typecastings sind die Operndirektoren für gewöhnlich unerbittlich. Zu dick geht nicht, und zu alt auch nicht. Als muss ein Fachwechsel oder zumindest eine Weiterentwicklung der Stimme in eine dramatischere Richtung, mit auch vom Lebensalter her reiferen Rollen erfolgt sein. Was also wurde, ganz zufällig ausgewählt, aus einst hoffnungsvollen, auch noch von der Plattenindustrie gut beschäftigten deutschen Opernsängerinnen wie Ruth Ziesak, Christiane Oelze, Christine Schäfer, Juliane Banse oder eben Dorothea Röschmann?
Die Ziesak und die Oelze, beide haben die 50 überschritten, sind so komplett von der Bühne abgetreten, sicher nicht freiwillig. Zum Glück haben sie immer schon auch ihre Lied- und Konzertkarrieren gepflegt, für einen leichten Sopran heute überlebensnotwendig. Auch wenn das „Habt Ihr nur Traurigkeit“ im Brahms-Requiem wohl längst nicht mehr so schwerlos wie früher flutet. Christine Schäfer, zuletzt seltsam glücklos als zu alter Cherubino und falsch besetzter „Ariadne“-Komponist (beides eher Mezzorollen) wie als nicht wirklich gute „Figaro“-Gräfin“ kritisiert, hat ganz plötzlich, kurz vor ihrem 50. Geburtstag, eine Auszeit genommen und alle Termine abgesagt, „um ihr künstlerisches und privates Leben neu zu strukturieren“ – so teilte die Agentur mit. Inzwischen hat sie in Berlin eine Professur. Ob man sie noch einmal öffentlich hören wird?
Juliane Banse, 47 Jahre alt, scheint nach einigen schwierigen Jahren wieder auf der Bühne Fuß gefasst zu haben, freilich meist mit nicht alltäglichen Rollen wie der Tochter in Hindemiths „Cardillac“ und den „Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna“ von Walter Braunfels. Sie ist inzwischen auch wieder als Fiordiligi oder Elsa von Brabant an großen Bühnen wie Amsterdam und Barcelona präsent. Eben sang sie in Düsseldorf Operette. An der Met aber hat sie nach dem Arabella-Debüt in Innsbruck 2010 dann doch wieder, und auch nur als Einspringerin, 2014 als deren als Bub verkleidete Schwester Zdenka debütiert: deren Hosen schien sie eigentlich schon entwachsen. Aber auch sie hat eine Professur ergattert, die der kürzlich verstorbenen Stella Doufexis in Düsseldorf.
Auch Dorothea Röschmann hat Krisen erlebt, 2007 hat sie gar für einige Monate pausiert. „Ich musste mich neu einstellen“, erzählte sie ganz offen. „Ich musste herausfinden, wo sind die Prioritäten, wie geht es in Balance, dass ich meinen Beruf gut vorbereitet und ausgeruht ausüben kann und gleichzeitig das Familienleben nicht zu kurz kommt. Wie kann ich um viertel nach sechs Uhr aufstehen und das Kind schulfertig machen, wenn ich abends eine Vorstellung hatte? Doch ich merkte: Dieser emotionales Beruf, dieses manchmal egozentrische Aufgehen in Musik und dann das erdverbundene Muttersein, das ist sehr heilsam. Die Fragen sind auf einmal ganz anders, man ist nicht mehr so sehr auf sich bezogen. Ich genieße aber die Zeiten, wenn ich dann ganz Sängerin sein darf. Das war mir immer kostbar und ist es mir jetzt noch mehr geworden. Mal erlebt dieses Privileg bewusster.“
Und Dorothea Röschmann erlebt es oft. Sie ist, wie schon am Anfang ihrer Karriere 1995, gleichermaßen gefragt von zwei so gegensätzlichen Pultgrößen wie Nikolaus Harnoncourt und Daniel Barenboim, und sie hat, nach deutlich hörbaren Jahren des Übergangs, nun den Weg ins etwas schwere, in Maßen dramatischere Fach geschafft, ohne den Schimmer ihrer fein lacierten, einst so mädchenhaften Stimme verloren zu haben. Sie ist gereift, ist eben jetzt Frau nicht mehr Fräulein, und dem hört man nach wie vor gerne zu. 2015 beispielsweise auf einer Liedtournee durch Amerika mit Mitsuko Uchida, die seit viele Jahren mit ihr arbeiten wollte. Und deren Frucht jetzt die Grammy prämierte CD war.
Deshalb wohl auch hat sich vor drei Jahren Sony entschlossen, mit der arrivierten, im Konzert- und Liedbereich wie auch auf der Opernszene fest im Sattel sitzenden, aber nicht überpräsenten Sängerin neuerlich eine kontinuierliche Zusammenarbeit anzustreben. Die beinhaltete eine in Stockholm mit dem Schwedischen Radiosinfonieorchester unter Daniel Harding produzierte Sammlung von Mozart-Arien sowie, die Terminfindung zog sich ein wenig hin, eine dem vorgezogene Lied-CD – mit dem Allerwelttitel „Portraits“ und einer zunächst arg populistisch anmutenden Auswahl mit bekannten Werken von Schubert, Schumann, Strauss und Wolf.
„Ich bin zu ernsthaft für Glamour, bin nicht locker, suche den Zusammenhang, das ist dann eben so,“ sagt die Röschmann kritisch mit sich selbst. Auf dem Cover ihrer ersten Solo-CD seit den „Neun deutschen Arien“ Händels mit der Berliner Akademie für Alte Musik aus dem Jahr 2000 zeigt sich Dorothea Röschmann hinter einem Schleicher, sehr deutsch und damenhaft. Etwas Frühreifes, Kernseifensauberes, geradlinig Solides umwehte auch schon die 1967 in Flensburg geborene Anfängerin, die es gleich (wenn auch als Ersatz für eine absagende Kollegin) in Daniel Barenboims an der Berliner Lindenoper frisch formiertes Ensemble junger, neuer oder bereits in den letzten DDR-Tagen aufgefallener Sänger wie Laura Aikin, Roman Trekel. Jeffrey Francis oder René Pape schaffte und die im folgenden Sommer 1995 bei den Salzburger Festspielen unter Harnoncourt und in der Regie von Luc Bondy als hinreißend ehrliche, verletzliche und doch handfeste Susanna debütierte.
Als sie dann 2006 in der nächsten Salzburger Neuinszenierung, wieder mit Harnoncourt am Pult, in der strindberghaft düsteren, aber psychologisch sehr genauen Inszenierung von Claus Guth an der Seite von nun Anna Netrebkos Susanna als neurotisch vergrübelte Gräfin wiederkehrte und reüssierte, da wurde deutlich, dass hier jemand sehr früh schon die Weichen für neue Karrierewege gestellt hatte. Und trotzdem, anders als die Netrebko, hat sich die Röschmann, die Arien-CD stellte das unter Beweis, aus dem Mozart-Wunderland noch nicht verabschiedet. Aber ihr war immer sehr klar, wann es Zeit wird, von bestimmten Rollen Abstand zu nehmen.
„Mozart ist die Grund, warum ich Opern singen wollte“, erzählt sie, „und das ist auch noch heute so. Seine Figuren als singenden Menschen, die traurig und lustig, aber immer sehr wahrhaftig sind, die faszinieren mich bis heute.“ Von der Zerlina ist sie Dorothea Röschmann zur Don Elvira gewechselt, von der Susanna 2004 zu Gräfin. „Barenboim hat mir das Debüt beim Ravinia-Festival in Chicago angeboten. Ich habe dann sehr bewusst 2003 meine letzten Susannen an der Met gesungen, wieder mit Bryn Terfel wie in Salzburg, da schloss sich ein Kreis. Dann habe ich einen neuen Klavierauszug gekauft und ein halbes Jahr später die Gräfin vom Stapel gelassen.“
Vorher war sie 2003 von der Servilia zur Vitellia in Mozarts „La Clemenza di Tito“ gewechselt – wieder unter Harnoncourt in Salzburg – und hat fast gleichzeitig mit Händels Rodelina eine weitere komplexe Mutterrolle ausprobiert. Auch die Fiordiligi ist inzwischen im Röschmann-Besitz, so wie die „Rosenkavalier“-Marschallin, obwohl sie die Sophie übersprungen hat. Die „Lohengrin“ Elsa hat sie 2009 erstmals mit gemischtem Ergebnis in Berlin ausprobiert, seitdem nicht mehr, weil sie Daniel Barenboim im Wort ist, die „Otello“-Desdemona sang sie 2015 in bei den Salzburger Osterfestspielen unter Christian Thielemann, gerade laufen die Wiederaufnahmeproben in Dresden. Am 23. Februar ist Premiere.
„Jede neue Rolle, vor allem hinsichtlich der Facherweiterung, war ein bewusster Schritt. Wenn man die Weichen stellt, dann braucht es sicher fünf Jahre, bis man in dem Fach wirklich zu Hause ist. Der Weg ist lang, man macht viel mit, darf sich auch nicht mit neuen Rollen im Terminkalender zubuchen, dann man muss ja erst Mal sehen, wie es funktioniert. Die Pamina, schon eine Entwicklung nach der Papagena als Anfängerin, habe ich sehr bewusst 2005 zu letzten Mal gemacht. Da habe ich noch meine Tochter Clara gestillt, und es war mit Claudio Abbado, auf Tournee und für die CD. Da war mir klar, dieses junge Mädchen, diese Persönlichkeit, wo man in der Stimme das Pure haben muss, aber auch die Stärke ein junges Mädchen, die lasse ich jetzt mal. Vokal wär das kein Problem gewesen, aber das Leben hat verschiedene Stationen. Man hat Narben, ist bereichert oder verletzt worden, war mit Leben und Tod konfrontiert. Das möchte ich in meinem Singen, in meinen Rollen mitteilen. Es ist ok, wenn eine Stimme reifen kann, so wie auch der Mensch reift. Und sich das im Repertoire spiegelt.“
Deshalb hat Dorothea Röschmann 2016 ihre erste Jenufa an der Wiener Staatsoper gesungen, „und sogar an Ariadne denke ich, wenn ich groß und stark bin.“ Auch mit der ,Wozzeck’-Marie liebäugelt sie bereits. Schon 2000, kurz bevor sie ihr Festengagement in Berlin nicht ganz freiwillig aufgab, war für sie, die in einer musikalischen Familie und im Chor viel Bach singend aufgewachsen ist, Scarlattis Griselda unter ihrem frühen Mentor René Jacobs eine erste Herausforderung. Für die sie sich, auch psychologisch „in einem echten Frauengespräch“ präpariert hat, und sich darstellerischen Rat bei ihrem Mann Christoph Bantzer geholt hat, der seit 1985 am Hamburger Thalia Theater engagiert ist. „Er drängt sich nie auf, ist vorsichtig, aber wenn ich ihn frage, dann ist er sehr ehrlich und genau.“
Dorothea Röschmann hat bei ihm, im Theater und auch in Opernvorstellungen von anderen stets sehr genau zugeschaut. So wie sie immer wieder vor den alten Bildnissen in der Londoner National Portrait Gallery saß, wenn sie zum Unterricht in der Stadt weilte bei ihre Lehrerin Vera Rozsa, die schon Kiri Te Kanawa, Anne Sofie von Otter und Karita Mattila groß gemacht hat. An Maria Stuart musste sie auch bei der Liedauswahl ihrer Portraits“-CD denken, die Schumanns kleinen Zyklus beinhaltet. „Schon als ich damals diese Bilder studierte, wollte ich mal eine „Porträt“-CD machen. Mit Wolfs und Schuberts Mignon und Schuberts Gretchen. Dazu die etwas abstrakteren ,Bildnisse’ von Richard Strauss. Auf dieser CD erscheint mir meine Stimme als Fotografie des Lebens.“ Unter den sensibel gestaltenden Klavierhänden von Malcom Martineau werden hier Frauenbilder sinnhaft, ja, und auch sinnlich Klanglichkeit. „Bezaubernd schön“ offenbaren sie die Reife und Erfahrung einer Stimme, die den opaken Schimmer ihrer fein lacierten Mädchenhaftigkeit noch erahnen lässt. So wie sie einst als Studentin in vor dem Bildnis der Maria Stuart saß, so malt es die erfahrene Künstlerin nun mit Schumanns Noten aus der Erinnerung nach.
Und übrigens: Dorothea Röschmanns Ännchen, das einst die wunderbare Helen Donath als Agathe-Partnerin in der alten Berliner Berghaus-Inszenierung hatte, die noch als reife Frau die jugendlich Lyrischen stimmlich wie darstellerisch glaubhaft machen konnte, ist inzwischen längst selbst zur herb-kraftvollen Agathe gereift. Und das schon 2015. Natürlich an der Berliner Staatsoper.
Fotos Sängerinnen: privat, Natalie Bothur, Agentur Augstein, Stefan Nimmesgern
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