Fremde Länder sind dafür da, praktische Entdeckungen für verbesserungswürdige Alltagssituationen zu erkunden, die mit einiger Verspätung mitunter dann auch bei uns ankommen. „Kenne ich schon“, kann man dann so supercool abgeklärt sagen. Heute ist das nicht die Erstbegegnung mit Bubble Tea (das war in Taiwan) oder mit der Plasteseuche Crocs (das war in Malibu Beach, Los Angeles), diesmal gibt es das Aha-Erlebnis beim Hotelfrühstück: Erdbeermarmelade zum unbefleckt Ausquetschen. Das ist unser Südkorea-Moment!
Man knicke, drücke, schmiere und habe ein deliziöses Croissant und einen herrlichen Tag. Wenn man schon ewig vor der einen Maschine auf den Kaffee warten musste, weil der Koreaner den offenbar nicht trinkt, aber dafür die nur selten in solcher Orchesterkohortenstärke einfallenden Europäer.
Das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin wurde heute disloziert, schließlich heißt Tournee meist viel reisen und wenig sehen – zumindest für die Musiker. Aus Ulsan verbessern wir uns um etwa 150 Kilometer nordöstlich nach Daegu, viertgrößte Stadt des Landes mit 2,5 Millionen Einwohnern. In der Umgegend gibt es altehrwürdige Tempel, die sogar Unesco-Weltkulturerbe sind, Daegu ist Modemetropole Südkoreas, größter Apfelanbauort und der wichtigste Markt für Medizinkräuter. Davon sieht man freilich auf diesem noch nicht einmal 24 Stunden währenden Kürzestaufenthalt nichts.
Dafür Staus und endlose Straßen mit einförmigen Gebäuden, eingebettet zwischen herbstbuntem Mittelgebirge. Das schön zwischen Gum-Ho-Fluss und Laubwald gelegene Casino-Hotel namens Inter-Burgo (die Jogger haben wieder eine gute Zeit im unverplanten zweieinhalb-Stunden-Slot nach der Ankunft) hat ein spanisches Thema und erklärt sich selbst als „A friendly village where everyone is of same heart.“ Na ja, wenn das rumpelige Ritterrüstungen, Monsterlüster, falsche Goyas, ein Don Quichote an jeder Lobbyecke, Frottee-Gobelins, Mittelmeeransichten auf dem Zimmer und Restaurant „Madrid“ sowie Büffet „Granada“ meint…
Der Konzertsaal Citizen Hall, wohin uns ein Bus bringt, der mit seinem lila Troddelvorhängen und ebensolchen Schonbezügen vorher offenbar das Tourgefährt von Dolly Parton war, liegt gleich neben dem Bahnhof. Und da ist auch schon wieder ein Lotte-Kaufhaus, vor dem ein Girlie-Gang-Tanzwettbewerb läuft, wo Zwölfjährige in Schuluniformröcken herausfordernd den Schoß kreiseln lassen als unkorrekte Mischung aus Gangnam Style und Lady Gaga. Gleich daneben findet sich die jetzt ruhige Parallelwelt eines in den letzten Sonntagnachmittagszuckungen liegenden Nachbarschaftsmarkts, wo allerschlimmste Chilischoten unschuldig in Säcken lauern und in den Garküchen Fischköpfe verzehrt werden. Um die Ecke ist eine immer quirliger werdende Fußgängerzone, in der sich die in großer Zahl vorhandene Jugend zum Powershoppen trifft und alle paar 100 Meter bei den nächsten Hüftverrenkungen pubertärer Wannabee-Popstars (ist dieser Contest stadtweit?) verweilt.
Der außen mit viel Stahl und Glas, innen mit hellem Holz und 1300 Sitzen aufwartende, jüngst renovierte Konzertsaal, im Gegensatz zu gestern völlig Chrysanthemenfrei, ist einer von mindestens vier Kulturorten in der Stadt – neben einer Oper (!), einem Theater, das „Les Miserables“ spielt (ist auf der Welt noch ein Land von singenden Victor-Hugo-Aufständischen frei?), und einer weiteren Musikmehrzweckhalle. Hier residiert das 1964 gegründete Daegu Symphony Orchestra unter seinem rumänischen, unter anderem in Berlin von der Karajan-Stiftung geförderten Chef Julian Kovachev. Und hier findet gerade das Asia Orchestra Symposium statt, das von einem internationalen Konzertfestival flankiert wird, und zu dem auch DSO-Orchesterchef Alexander Steinbeis zu einem Panel über Sponsoring und Fundraising erscheint. Das Orchester aber probt währenddessen intensiv über eine Stunde die 7. und die 3. Beethoven-Sinfonie, schließlich ist für Tugan Sokhiev jeden Abend „jetzt“: Es soll anders sein, er mag sich nicht wiederholen.
Auch wenn wir diesmal direkt über dem Orchester auf Zahnarztähnlichen Sesseln platziert sind, das Blech ziemlich laut loskracht und auch das Holz gänzlich isoliert klingt: Man hört gern zu, wie Sokhiev einen undogmatischen Beethoven formt, ohne Überhitztheit und grelle Individualität, ohne zwanghaftes Anderswollen, organisch, entwickelt, mitreißend, melodiös, musikantisch. Und selbst ohne koreanischen Starpianisten lässt sich das vorher so domestizierte, wieder sehr junge Publikum gehen, klatscht, kreischt, johlt. Das DSO im Popstar-Feeling. Da fetzt die zugegebene „Figaro“-Ouvertüre noch einmal tolltäglicher los. Vorher freilich hat das Personal, das eine Stunde vorher mit Taschenlampen jeden Sitz auf Sauberkeit kontrolliert, alle huschhusch in den Saal gescheucht. Kein Programmheft darf auf der Brüstung liegen, die unerbittlichen Damen haben ihre Augen überall.
Tourneen bieten noch mehr Gelegenheit, an einem Abend verschiedene Solistenbesetzungen zu hören, da diese meist nach der Pause wechseln. Es sind ja alle sowieso da, und der Reisestress minimiert sich. Freilich sitzen gerade an den ersten DSO-Pulten diesmal besonders viele Aushilfen, die meisten wegen Elternzeit. „Wir sind gegenwärtig ein sehr fruchtbares Orchester“, stoßseufzt ein umdispositionsgewohnter Administrator. Weil zudem eine Konzertmeister- und eine Soloklarinettenstelle frei sind, wurden die mit einem Vorspieler der zweiten Geigen des Sinfonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, bzw. dem schon bewährten Soloklarinettisten der Münchner Philharmoniker besetzt. Das zweite Solofagott kommt aus Basel, die zweite Solooboe vom NDR-Sinfonieorchester aus Hamburg, die zweite Soloflöte von der Komischen Oper Berlin. Es spricht für das DSO, das solche Spitzenleute dabei sind, die sich zudem harmonisch in den Gesamtklang einfügen.
Der Tag endet – natürlich – wieder mit Essen. Nach dem Konzert gibt es noch einen Empfang vom koreanischen Veranstalter tief in den Eingeweiden des hoteleigenen labyrinthischen Kongresszentrums. Und während man bisher schon Quallensalat und Seegurkensuppe (alles eher neutral schmeckend) überlebt hat, nach eine wunderbarer Fressorgie in einer Wohngarküche mit Omavorhängen Fischtopf, koreanische Pizza mit Rindfleisch, Schweinehack oder Kimchi verdaut sowie festgestellt hat, dass die pseudofranzösische Ulsaner Pattiserie-Kette „Paris Baguette“ mit ihren Papp-Éclairs und Styroportorten in Daegu ein Äquivalent namens „Tous les Jours“ besitzt, gab es bereits Backstage lecker Macarons und Krabbenschwänze mit (viel!) Knoblauch als Pausensnack.
Das Post-Konzert-Buffet im Saal Kamelie ist dagegen konventioneller, aber gut. Rätsel bereiten nur die roten Würmer, ist es besonders scharfes Kimchi oder Tatar? Letzteres. Nun ein nach nichts schmeckendes, nach türkischem Gebäck aussehendes Dessert lässt sich nicht zuortnen. Dafür firmiert der Champagner, den Dotoressa Liccini jetzt für das Leitungsteam ausschenkt, eindeutig als kreislaufanregendes, nicht verschreibungspflichtiges Medikament.
Morgen mehr!
Der Beitrag DSO in Fernost: Asientournee III erschien zuerst auf Brugs Klassiker.