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Channel: Manuel Brug – Brugs Klassiker
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Amsterdam: Warlikowskis glamouröser „Wozzeck“ im Sixties-Look

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Er hat es geschafft. Krzysztof Warlikowski, nicht unumstrittener Theater- und Opernregisseur, hat dem reichlich ausgedeutet erscheinenden „Wozzeck“ eine komplett neue Optik gegeben. Der gern als nicht ganz von dieser Welt einem entgegenblinzelnde Pole hat dem immer noch aktuellen, musikalisch und dramaturgisch vollendet perfekten Alban-Berg-Klassiker bei seinem Amsterdamer Debüt an der Dutch National Opera nicht nur eine glamourös schillernden Look verliehen, er hat darin auch ein paar altvertraute Perspektiven verschoben. Wow, möchte man sagen, da hat einer nach nicht immer ganz trittsicheren Anfängen in der Oper endlich in diesem Genre nachhaltig Fuß gefast. Stimmt aber leider nicht: Denn die sonst so korrekte DNO hat doch glatt unterschlagen, dass Warlikowski diese Inszenierung bereits 2006, dem Jahr seines internationalen Operndebüts mit „Iphigénie en Tauride“ in Paris, in Warschau am Teatr Wielki herausgebracht und jetzt höchstens überarbeitet hat.

Macht aber nichts, denn ihre Stärken schmälert der kleine Betrug der Öffentlichkeit nicht wirklich. Nur muss man halt jetzt sagen, dass seine ewige Ausstatterin, die meist als schwarze Schamanin gekleidete Malgorzata Szczesniak, ihr Vorliebe für rosa Neon, Plexiglas, Holzfurnier und Metallgestänge, dazu ziemlich gekünstelte Sixties-Outfits, schon damals vollendet ausgebildet und jetzt nur noch verfeinert hat. Es ist also alles schon hier auf der Szene, was dann später variiert wurde: die breite, aufgerissen leere Bühne (wofür sich das Het Muziektheater an der Amstel besonders gut eignet), die Dreieiteilung durch einen schmaleren, sich herabsenkenden Raum mit großen Fenstern und getäfelten Wänden. Links steht eine Reihe von Friseursesseln, die auf Wozzecks Beruf verweisen; rechts versteckt sich hinter einer Glasbausteinwand ein Pissoir; hinten ragen acht miteinander verbundenen Rutschen als Blechwand auf: In diese Welt muss man sich hinabbewegen, so wie es am Ende die Görenschar in heutiger Buntfunktionskleidung tut, die das namenlose Kind zu seiner toten Mutter führt.

Alle Fotos. Dutch National Opera/Ruth Waltz

Der Junge (Jacob Jutte) sitzt schon anfangs an einem Esstisch vorne rechts während 18 Mini-Tournierpaare um ihn herumwalzen. Kleine, altklug wirkende Erwachsene in sexy Latin-Tanzposen, die nie eine Kindheit hatten. Denn auch dieser Junge bekommt alles mit, was in der dysfunktionalen Beziehung seiner Eltern nicht funktioniert. Da ist die unausgefüllte, vor kaum genutzter Sinnlichkeit fast überlaufende Mutter, die die fleischig und schön singende Eva-Marie Westbroeck mit allen Poren und Stimmbandphasen auf der Bühne gurrend und stöhnend ausbreitet. Mal mit schwarzer Perücke in Lack als Domina, mal schlampös verrutscht mit hochtoupiertem Rotschopf und schickem Kleid. Am Ende, zum Sterben reicht ihr Wozzeck einen weißen Spitzenbrautmantel, fügt sie sich, lässt sich fast willenlos mit dem Rasiermesser die Kehle durchschneiden. Großes Opfer, große Oper.

Noch einmal dann, wenn Wozzeck, ebenfalls herrlich bühnenfüllend als schmieriges Blondhaarwürstchen mit Brille gespielt und gesungen von Christopher Maltman, nach einem letzten letalen Chanson von Margaret (tolle Barsängerin: Ursula Hesse von den Steinen), an den Ort der Tat zurückkehrt: einem fischlosen Aquarium, dessen Wasser von seinem Blut rot wird, bevor er dahinter tot niedersinkt. Wie später auch sein Sohn, diesmal die dritte Hauptrolle, nachdem er der schrecklichen, auch nüchternen, hier tröstlich in symbolstarken Bildern überhöhten Wahrheit ins Gesicht geschaut hat.

Das Kind, es führt bei Warlikowski ein ganz eigenes Leben, tritt selbst vor den silbern schimmernden Vorhang und spricht das Märchen, das ihm die Mutter vorlesen wird. Immer wieder schaut der Junge zu, wird zum Voyeur. Und bleibt doch seltsam unfassbar, auch ein Außenseiter neben seinen immer wieder in ihren Barbie-Tanzkleidern wie pailettenglitzernde Aliens vorbeistelzenden Altersgenossen. Zwei von ihnen tragen auch mal Mickey-Mouse-Masken, so wie später die Handelnden in seinem pariser „Kpnig Roger“. Warlikowski und Szczesnia schaffen ganz ungezwungen eine soghaft seltsame, surreal melancholische Atmosphäre aus Triebhaftigkeit und Abgrund. Alles Proletarische ist verschwunden, dieser „Wozzeck“ spielt in einer Welt der Bourgeois und Dienstleister. Und Marie, das scheint die ältere Schwester von Cathérine Deneuves Luxusnutte in Buñuels „Belle du Jour“.

Großartige Nebenfiguren ergänzen das starke Trio: Marcel Beekman ist mit scharfem Tenor ein mal tuntiger, mal gefährlich lauernder Hauptmann und rollt als Narr mit Bischofsmaske im Rollstuhl ins tumultöse Wirtshaus. Willard Whites Doktor macht sich als graue Eminenz hinter der Aktentasche breit. Frank van Akens stimmstrotzender Tambourmajor ist ebenfalls ein fesch gemachter Anzugträger mit hohen Stiefeletten. Soldaten und Gaststättenbesucher bauen sich als mausige Angestelltenmasse in Unterwäsche auf Stühlen auf. Mit dem skurrilen Andres (Jason Bridges) wühlt Wozzeck nicht in der rätselhaften Natur, sondern in Perücken. Und von den beiden schrägen Handwerksburschen (Scott Wilde, Morschi Frantz) als Croner in der Kneipe ist natürlich einer eine Transe; anders geht es bei Warlikowski (fast) nicht.

Und über allem regiert natürlich Bergs mirakulöse Partitur. DNO-Musikchef Marc Albrecht lässt sie in seinem dritten „Wozzeck“ (nach Darmstadt und Dresden) am Pult des prächtig klingenden, wachen Nederlands Philharmonisch Orchest glutvoll leuchten. Er zerlegt sie kristallin in ihre Strukturen, um das Geflecht an Anspielungen, Gattungen, Techniken und Systemen nur noch grandioser wirken zu lassen. Grandios der Schluss, wenn das Kind die dauernd präsente anatomische Lehrpuppe auseinandernimmt und als letztes – „Hopp, Hopp“ – deren Plastikherz ins Aquarium platschen lässt.

Krzysztof Warlikowskis phantasmagorische Inszenierung erweist sich so auch 17 Jahre nach ihrer wirklichen Premiere nur wenig optimiert als auf der Höhe einer irrsinnigen Zeit. Als nächstes bringt er übrigens am 1. Juli zur Eröffnung der Münchner Festspiele die dort seit dem zweiten Weltkrieg nie mehr gespielten „Gezeichneten“ von Franz Schreker heraus. Wird ihm sicher liegen. Und ist ganz bestimmt neu.

Der Beitrag Amsterdam: Warlikowskis glamouröser „Wozzeck“ im Sixties-Look erschien zuerst auf Brugs Klassiker.


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