Jaaa! Es gibt ihn, er ist da. Kirill Petrenko ist ans Pult der Berliner Philharmoniker getreten und hat sein erstes Konzert seit seiner Wahl zum künftigen Chefdirigenten dirigiert. Und er startet megafies, mit dem gegenwärtig Schwersten für ein großen Sinfonieorchester überhaupt: Mozart! Ausbaden muss nun also die kleine, unscheinbare, blitzsaubere Haffner-Sinfonie, dass der künftige Pultgewaltige an der Herbert-von-Karajan-Straße Nr. 1 seit Dezember 2012 hier nicht mehr öffentlich im Konzert gesehen worden und dass seit seiner Wahl im Juni 2015 auch wieder bereits 21 Monate vergangen sind. Der Erwartungsdruck ist zum Platzen groß. Jetzt also kommt er, das Haus ist übervoll, alte und neue Intendanten, der Petrenko-Agent, seine Täschchen als Schutzschild auf dem Schoss, die Abonnenten des 4. Konzerts F und das gewöhnliche Kultur-Bagagi. Er tritt gemessen schnellen Schrittes herein, verbeugt sich zackig, atmet durch und legt los. Doch obwohl das Orchester – bis auf Giorgi Gvantseladze, den Solooboist der Bayerischen Staatsoper – so aushilfen- und akademistenfrei wie selten ist, stolpert man doch erst mal ins paukenumwirbelt fanfarenkräftige Thema, die Hörner sind nicht präzise die ersten Geigen schmieren kurz ab. Ein wenig Nervosität ist eben selbst bei Könnern dabei. Wie menschlich. Dann aber ist fröhliches Wirbeln angesagt, mit Zehnerbesetzung auf halber Strecke zwischen historisch informiert und romantisch feinseiden.
Warum tut sich Kirill Petrenko das an? War sein Mozart doch schon an der Komischen Oper nicht unumstritten, die „Clemenza di Tito“ die bisher schwächste Premiere seiner Münchner Zeit. Der will es einfach wissen, eine superehrliche Haut, die sich nackig macht, alles auf den Tisch legt. Mit KV 385 D-Dur. Schon das wiegend tickende G-Dur Andante bringt freilich die Dinge ins Lot, schön schwingt sich das ein, leise blöken die Fagotte dazu; man begegnet einander auf Augenhöhe. Jetzt sind die Dinge gesetzt. Der dritte Satz wird ein Fest des Menuett-Witzes und der Trio-Heiterkeit, Wie in einer Steilkurve geht es anschließen prasselnd ins Geschwindmarsch-Finale. Nach dem freundlich-lauernden, kurzkräftigen Berlin-Beifall zu Anfang kommt erste Begeisterung auf.
Die freilich zur Pause ruhiger Ergebenheit im Publikum weicht. Kirill Petrenko macht nämlich fast kothauhaft seine Reverenz vor dem Artist-in-Residence dieser Spielzeit, dem am 15. Februar 70 Jahre alt gewordenen Komponisten John Adams. Und spielt wohl erstmals ein Stück von ihm, „The Wound-Dresser“, eine 20-minütige Szene für Bariton nach einem Gedicht von Walt Withman. Wie ein Wundenverbinder auf dem Schlachtfeld sieht der unterforderte Georg Nigl mit Frack, ondulierten Locken und Brille nicht aus, der könnte auch aus einer „Traviata“ kommen. Seine Part ist wohlfeiles Trauerparlando mit wenigen, pointiert gesetzten Dynamikausbrüchen. Das Orchester gibt sich vor allem streicherelegisch, Konzertmeister Daishin Kashimoto hat dankbar glänzende Solostellen. Und dann ist da noch ein offensiv bei Charles Ives geklaute Solotrompete (zurückhalten melancholisch von Gábor Takövi geblasen), die diese bei den Amerikanern als Genre offenbar sehr beliebte pazifistischen Schlachtenstudie mit goldenem Blechfirn überzieht. Ein wenig blutleer, aber atmosphärisch dicht.
Simon Rattle hatte 1999 Glück. Er am 23. Juli gewählt worden, im September stand er, längst schon geplant, beim Mahler-Festwochenzyklus mit der rekonstruierten 10. Sinfonie am philharmonischen Pult. Ihn kannte man sein Jahrzehnten, das Werk kaum, das Idiom aber schon, von ihm und von Abbado. Bei Kirill Petrenko gibt es jetzt immer noch viele Fragezeichen. Erst mal hatte er sich für die Proben, auch wenn die Pressestelle keine Vorkommnisse meldete, in eine Art Scharoun-Festung zurückgezogen. Die Türen blieben selbst für die Mitarbeiter verschlossen, es gab sogar einen Spezialausweis. Mit der neuen Intendantin Andrea Zietzschmann hat sich Petrenko dem Vernehmen nach bisher nur einmal allein getroffen, ein zweites Mal zusammen mit der künstlerischen Planerin. Dem Wunsch nach einem eigenen Petrenko-Dramaturgen soll man nicht entsprochen haben. Angeblich wird er erst mal weiterhin Ausgefallenes terminieren, um das Kernrepertoire will er wohl zunächst einen Bogen machen. In der folge Spielzeit gibt es vermutlich auch nur ein Programm mit ihm, im Sommer 2019 will er auf die übliche Kurztournee nach Salzburg und Luzern gehen. Viel mehr ist nicht bekannt. Im Programm aber steht noch einmal deutlich: „Im Herbst 2013 trat Kirill Petrenko sein Amt als Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper an, das er bis Ende der Spielzeit 2019/20 innehaben wird.“ Das zieht sich hier also noch einige Zeit. Wenn er dann also in drei Jahren wirklich komplett da ist, zählt er (wie einst Rattle) auch schon 48 Jahre. Ob das Orchester es bis dahin mitmacht?
Erst mal schon, denn nach der Pause zelebriert Kirill Petrenko gustiös den nächsten, diesmal populären Trauerfall: Peter Tschaikowskys (einen Komponist den Simon Rattle hasst) 6. Sinfonie h-moll. Ab 21.15 Uhr geht es zur Sache. Die wird très pathétique, dabei mit glorioser Spielkultur ausgebreitet. Nächste Sasion soll wohl die 5. Sinfonie folgen. Wie bei einem Musterfächer schwelgt Petrenko jetzt mit zackig-eleganten, keinen Meter zu weit vorstoßenden Bewegungen in Farben und Schattierungen. Genussvoll dehnt er Generalpausen und Rubati aus, doch immer bleibt er schlank, durchsichtig, Herr des diszipliniert entfesselten Orchestergefechts. Die Partitur steht wie geschrieben klar über den Musikern und der fast überdeutlich entwickelten Einleitung mit ihren chromatischen Seufzern.
Schon hier kostet Petrenko Drama und Kontrast aus, traut sich Gefühligkeit, aber keine Bekenntnismusik. Nichts fettet, Süßes wird nicht zu Schleim, Tränenreiches hält die Schleusen zu. Mit ruhiger Schönheit und schwereloser Melodik weisen Wenzel Fuchs’ Klarinette und Daniele Damianos Fagott den Weg zum finalen Abgrund. Geschmackig schwelgen die Celli im humpelnden Walzer, der Trauermarsch ist keine Danse macabre, sondern eine wirkungsästhetische Etüde über Steigerung und Instrumentierung. Und auch im Finale wird es nicht zu Tode betrübt. Gefasst, dabei stets einen runden, biegsamen Klang als Ideal im Sinn, geht es auf den letzten Takten fast sachlich zu Ende. Kontrolle ist alles. 21.59 Uhr. Großer, langhaltender Beifall. Hand aufs Herz bei Petrenko. Die mögen sich! Und das Publikum mag den Neuen. So mancher mag mein Hinausgehen freilich die Entäußerung, die entfesselte Leidenschaft eines Christian Thielemann vermissen. Hat nicht sollen sein. Und ich denke lächelnd: Hätte der die Wahl gewonnen, wäre der jetzt am Pult gestanden, dann hätte auf meinem Platz seine Mutter gesessen…
Noch einmal am 23. März in Berlin und am 8. Apirl in Baden-Baden; oder in der Digital Concert Hall
Der Beitrag Berliner Philharmoniker: Kirill Petrenko war da! Und ist gleich wieder weg erschien zuerst auf Brugs Klassiker.