Und noch ein Russe, ebenfalls fast 45 Jahre alt. Vladimir Jurowski tritt seit seiner Berufung zu seinem zweiten Konzert mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin im Konzerthaus an. Der Druck ist weniger als beim Kollegen Petrenko in der Philharmonie. Der Anspruch aber mindestens genauso hoch. Nach Martinu, Rachmaninow und Hindemith im Januar kommt der Chef in spe – er wohnt ja schon immer hier, wie inzwischen auch Robin Ticciati, sein ebenfalls nächsten September neustartender Kollege beim DSO – bereits wieder; diesmal mit zweimal Mozart und Arvo Pärts 4. Sinfonie. Trauermusiken zur Passionszeit, am Freitagabend freilich auch ein wenig ein Abtörnprogramm – zumindest in der ersten Hälfte. Sparsam ist Jurowskis Gestik, präzise und effektiv. Das Orchester darf etwas mehr loslassen als bei seinem Vorgänger Marek Janowski, spielt entspannt, aber mit höchster Aufmerksamkeit die lakonische, nur sieben Minuten lange Maurerische Trauermusik. Das ist ruhig fließende Melancholie, geradlinig, gefasst. Immer wieder ein rätselvolles Stück. Und Jurowski sucht darin einen fast extremen Spaltklang, fast geräuschhaft klingen die Hörner.
Das stehende Jetzt dann bei Arvo Pärts neun Jahre alter 4. Sinfonie, nach den Uraufführungsort „Los Angeles“ benannt. Die typisch dahin mäandernden Streicherflächen, nur unterbrochen von Glocken und leiser Perkussion. Etwas zu lang und zu ähnlich sind sich die vier Sätze. Neotonale Meditationsmusik. Die sogar, der Komponist zeigt sich am Ende, ein paar Buhs herausfordert. Macht nichts, das Orchester klingt schön, zurückhaltend, ist dabei stets kontrolliert. Musik mit menschlichem Atem.
So geht Vladimir Jurowski auch das Mozart-Requiem in der Beyer-Bearbeitung an: kontemplativ, aber nie schreckenszerrissen, fast objektiv wirkt diese Ausstellung in Klang gefassten Gefühls. Der Ritus scheint zwar spontan ausgedeutet, und doch weiß jeder, was er spielt und singt. Wunderbar souverän der RIAS Kammerchor (einstudiert von seinem ebenfalls künftigen Chef Justin Doyle), der findet seinen Weg auch allein, lässt sich aber generös leiten, schmiegt sich an das Orchester ohne mit ihm zu verschmelzen. Autark bliebt hier das vokale Element, nie geht es in Extreme der Gefühösentäußerung. Man konzentriert sich als Hörer auf dieses fabelhafte Wechselspiel von Chor und Orchester weil die Vokalsolisten eher schwach sind, nicht gut zusammenpassen. Selten erlebt man die berühmten Solonummern so neutral vorbeiziehen wie mit Christina Landshamer, Christianne Stotjin, Ben Johnson, Franz-Josef Selig.
Anspruchsvoll gibt sich Vladimir Jurowski auch in Zukunft, das machte er bei seiner Pressekonferenz am Donnerstag für die erste Spielzeit deutlich. Diversität und Vielfalt zeichnet deshalb schon das Antrittskonzert am 17. September mit Werken von Isan Yun, Arnold Schönberg und Luigi Nono die auf Beethovens 5. Sinfonie mit den Gustav-Mahler Retuschen treffen werden. Mahler soll auch eine Art Cantus firmus der Saison 17/18 sein, ebenfalls vermehrt Moderne und ein Beethoven-Schwerpunkt.. 60 Konzerte plant das RSB, darunter 23 Sinfoniekonzerte und 16 Kinderkonzerte. Jurowski wird zehn Konzerte leiten, davon neun in Berlin. Zum ersten Mal werden Karina Canellakis, Krzysztof Urbański, Michael Francis, Osmo Vänskä, Enno Poppe und Thomas Søndergård am RSB-Pult stehen. Vier Gastdirigenten werden eigene Werke leiten: Jörg Widmann, Krzystof Penderecki (mit erstmals Anne-Sophie Mutter bei diesem Klangkörper), Matthias Pintscher und Thomas Adès.
Freuen darf man sich auf wiederkehrende Gastdirigenten wie Jakub Hrůša, der Dvořáks Stabat mater dirigiert, oder Lahav Shani mit Tschaikowskys 4. Sinfonie. Weitere Solisten sind Christian Tetzlaff, Tabea Zimmermann, Johannes Moser, Daniel Müller-Schott, Lars Vogt, Marc-André Hamelin, Kirill Gerstein, Andreas Staier und Maria Bentgsson. Wie sein Vater Michail scheint auch Vladimir Jurowski eine Vorliebe fürs Ballett zu haben und so gibt es den gesamten „Nussknacker“ konzertant zu hören. Und unter der Leitung von Frank Strobel spielt das RSB live die Originalmusik von Ludovic Bource zum modernen Stummfilm „The Artist“, der 2012 mit fünf Oscars ausgezeichnet wurde. Auch im ehemaligen Stummfilmkino Delphi in Weißensee gibt es Kammermusik simultan zu Kurzfilmen.
Und am Montag ist Vladimir Jurowski bereits wieder mit em Ensemble United im Konzerthaus zu erleben: Unter dem Titel „Russisches Roulette“ gibt es Musik von Georgy Dorokhov, Edison Denissow, Anton Safronov und Galina Ustwolskaja.
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