Slava. Eine Jahrhundertfigur – als Musiker und als Mensch, mit Licht und Schatten. Das war Mstislav Rostropovich, der heute 90 Jahre alt geworden wäre. Ein Freund und Beförderer von Komponisten. Ein Dirigent, Lehrer, politischer Humanist. Vergleichbar nur mit seinem Vorgänger und Kollegen Pablo Casals. Der eine hatte sein Instrument und die Musik, um sich gegen die Faschisten zu wehren, der andere widerstand damit den Kommunisten. Beide waren sie engagierte Patrioten und beide lebten sie jahrzehntelang außerhalb ihrer Heimat. Mstislav Rostropovich wurde am 27. März 1927 im russischen Baku geboren, er starb am 27. April 2007 – einen Monat nach seinem 80. Geburtstag in Moskau an Leberkrebs. Schon vorher hatte er alle weltweit geplanten Ehrungen, Konzerte und andere Geburtstagsveranstaltungen absagen müssen.
Slava, nicht Mstislav. So wie Lenny Bernstein. Man mag sich Furtwängler, Karajan, Toscanini oder die Callas nicht als Person mit einem Spitznamen vorstellen. Dazu waren sie zu sehr Titanen. Rostropovich war auch ein Titan. Aber einer, der lächelte, der warmherzig war. Auch geschäftstüchtig. Und ein Frauenflüsterer, davon wusste Galina Vishnevskaya, seine lebenslange, sopransingende Dulcinea durchaus zu berichten. Für eine sehr berühmte Geigerin, zu der er spät entflamme, kaufte er sich eigens eine Wohnung in Monaco. Vor allem aber war Slava einer, der auch unmusikalische Menschen bewegte. Durch sein mutiges Auftreten gegenüber Diktatur und Unterdrückung. Durch seine Auffassung der Musik als weltverbindender Sprache, die er selbst lebte und nicht nur als Worthülse gebrauchte.
Er war ein Charmeur und ein Entertainer, er liebte Glamour und gutes Essen, aber wenn er spielte, dann wurde unter seinen Händen das Cello zum Liebesknochen. Er hat ihm mit Wärme und Fingerfertigkeit, mit Geschmack und Intelligenz, mit Neugier und Temperament eine Bedeutung gegeben, die es plötzlich auf eine Ebene mit dem Klavier und der Geige stellte. Das Cello als das wahre Instrument des 20. Jahrhunderts: sonor und voluminös, aber auch feinsinnig, feinherb, wissend, zur Klage und harscher Wut fähig; ein Chamäleon, anpassungsfähig in allen musikalischen Lebenslagen.
Und so hat der vehemente Zeitgenosse Mstislav Rostropovich vor allem immer wieder auch die Komponisten inspiriert, für dieses oft vernachlässigte Instrument, aber auch für ihn zu komponieren. Seine Aufträge und Uraufführungen gehen in die Hunderte. Das zweite Cellokonzert von Prokofiew (1952) und beide Konzerte von Schostakowitsch (1959, 1966), Brittens Cello Symphony von 1964, auch die Werke von Khatchaturian, Lutoslawski, Dutilleux, Schnittke und Gubajdulina werden bleiben, mindestens.
Geboren als Sohn eines Cellisten (der zeitweise bei Casals studiert hatte) und einer Pianistin, erhielt Rostropovich schon als Kind eine gründliche Ausbildung auf Klavier und Cello. Sein Solistendebüt gab er mit 13 Jahren, die renommierte Moskauer Musikhochschule schloss er, der sich nach dem frühen Tod seines Vaters um den Unterhalt der Familie kümmern musste, wegen überragender Leistungen 1948 bereits nach drei Jahren ab.
Sofort begann eine steile Karriere als führender Cellist der damaligen Sowjetunion, die ihn auch sehr schnell ins Ausland führte. Anfang der Sechzigerjahre dirigierte er seine ersten öffentlichen Konzerte, 1968 brachte er eine aufsehenerregende musikalischen Neueinstudierung von Tschaikowskys „Eugen Onegin“ am Bolschoi Theater heraus, mit dessen Primadonna Galina Vishnevskaya, seit 1955 seine Gattin, als Tatjana. Das Paar machte sich auch für die lange verfemte Urfassung von Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ stark, die in einer grandiosen Platteneinspielung vorliegt.
Mstislav Rostropovich, als Cellist für seine meisterhafte Technik, seinen honigsüßen Ton sowie seine eindringliche, visionäre Interpretationen bekannt, war in den Siebziger- und Achtzigerjahren ein hochbezahlter Darling des Musikbetriebes. Auch zu Hause. Aber das hat ihm nie gereicht, hat seinen inneren Antrieb nicht allein befriedigt. Denn er war nicht blind, für das, was um ihn herum politisch geschah. Und er musste es auch am eigenen Musikerleib erfahren. 1971 wurde er mit Ausreiseverbot belegt, nachdem er für den Literatur-Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn eingetreten war, den Wohnungslosen vier Jahre lang in seiner Datscha hatte wohnen lassen. 1974 verließ er mit seiner Frau freiwillig die Sowjetunion. 1978 wurden ihnen die sowjetischen Staatsbürgerschaft sowie alle staatlichen Auszeichnungen und Ehrentitel aberkannt; sie wurden Schweizer.
Auch später hat sich Rostropovich für den sowjetischen Regimekritiker Andrej Sacharov stark gemacht, 1990 unternahm er mit dem National Symphony Orchestra of Washington, dem er von 1977 bis 1994 vorstand, seine erste triumphale Konzertreise in die Heimat. Während der Wirren im August 1991 fühlte er sich aus Liebe zu seiner russischen Heimat genötigt, kurzentschlossen – ohne Visum – nach Moskau zu fliegen, um jene bedeutsamen Tage im russischen Parlament und auf den Straßen zu verbringen, wo er als Nationalheld gefeiert wurde. Zuletzt hatte er neben seinem Pariser Domizil auch wieder eine Wohnung in Moskau.
Ebenso selbstverständlich war es für Mstislav Rostropovich – als seltsame Mischung aus großer PR-Geste und grandioser humanistischer Umarmung – zwei Tage nach dem Fall der Berliner Mauer sich im Privatjet von Gilles Hennessy nach Tempelhof fliegen zu lassen und am Checkpoint Charlie bei diesigem Novemberwetter eine Solosuite von Bach zu spielen. Es war nur ein Wimpernschlag in der Weltgeschichte, aber einer mit riesigem Symbolwert. Ich, damals zufällig im Springer-Haus anwesend, habe ihm den Stuhl dorthin getragen. Und alle, die dabei waren, glaubten, einer außerirdischen Erscheinung beizuwohnen.
Slava hat sich in seinem Ruhm gesonnt. Aber er hat an seinem Glanz stets andere teilhaben lassen. Er wusste, wann es Zeit war, mit dem Cellospiel öffentlich aufzuhören, das Dirigieren machte ihm immer noch Freude, ebenso der musikalische Nachwuchs. Als er Mitte der Neunzigerjahre, spät, aber genau richtig in der Balance aus Können und Lebenserfahrung, erstmals Bachs sechs Cellosolosonaten einspielte, war das eine der teuersten, aber auch erfolgreichsten Produktionen der damaligen EMI. Und auch hier war er wieder spürbar, dieser warme, wissende Ton, der mehr vermittelte als unsterbliche Noten.
Zum 90. Geburtstag hat man bei der Nachfolgefirma Warner Classcis alles zusammensucht, was Rostropovich früher bei der EMI, bei Teldec, Erato und bei diversen russischen Firmen aufgenommen hat, um in der Nachfolge ähnlicher Callas-, Menuhin, und Perlman etwas bleibend Repräsentatives in die Geschäfte zu klotzen. Natürlich war auch die Deutsche Grammophon nicht faul, denn der den Wert des Geldes durchaus zu schätzende, sich mit Malachit, Pelz und Edelhölzern gern umgebenden Slava war nie ein Exklusivkünstler. Und so präsentiert man in einer dürftig aufgemachten, aber durchaus auch enzyklopädischen Kiste zum ersten Mal alle Einspielungen Rostropovichs für das gelbe Label, Decca und Philips zusammenbringt, daneben enthalten sind Aufnahmen, die für Westminster / Melodija entstanden. Diese 37-CD-Box enthält zahlreiche berühmte Einspielungen, darunter die Aufnahme von Dvoraks Cello-Konzert aus dem Jahr 1968 mit Herbert von Karajan oder nicht weniger als drei verschiedene Einspielungen von Schuberts Streichquintett sowie Begegnungen mit Anne-Sophie Mutter, Martha Argerich, Benjamin Britten, Svjatoslav Richter und vielen anderen. Rostropowitsch tritt auch als Pianist und sehr viel, vielleicht zu viel (?) als Dirigent in Erscheinung. Trotzdem ist hier nur der konservativere Tel seines Musikerlebens abgebildet.
Da wird man bei der Warner befriedigender fündig, wo man auch mehr Mühe und Liebe in diese, auch technisch blitzblank geputzten 40 CDs plus drei DVDs plus 200-seitiges, schön bebildertes Begleitbuch gesteckt hat. Sicher, Bernstein, Argerich und Serkin vermisst man hier, aber da meiste hat er sowieso mehrfach eingespielt. Aber in der roten Kiste stecken eben auch eine Unzahl der Rostro-Uraufführungen. Und wenn davon sicher auch nicht alles bleibenden Wert hat, es sind herzwärmende Dokumente von Künstlerfreundschaften, Mode und Zeitgeist, Experiment und Konvention. Es zeigt ein ewigen Suchen, Schnüffeln, Grenzen Überschreiten. Im Dienst des jetzt und des Morgens, des Nicht-Verharrens auf dem Status Quo liebgewonnener, ewig repetierter Repertoire-Bonbons.
Doch, Tschaikowskys Rokoko-Variationen gibt es gleich zweimal, dafür aber auch eine ganze CD mit Musik von Boris Tschaikowsky. Und immer ist da ein beseelter, wahrhaft freier, durchaus auch seiner Selbst und seiner repräsentativen Haltung bewusster Geist, der im entscheidenden Moment sich freilich ganz zum Diener des Komponisten machte und eines über alles stelle: die Musik.
Rostropovich: Cellist of the Century (Warner Classics); Mstislav Rostropovich: Complete Recordings on Deutsche Grammophon (Deutsche Grammophon)
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