Keine Dreiviertakt-Folter? Wo bleibt der Walzer-Wahnsinn? Das Rätsel der scheinbar Johann-Strauss- und Donau-so-blau-freien AUA-Flugkabine ist schnell gelöst: Die Pureserette im obligaten Habsburgsignalrot hat einfach nur auf ganz, ganz leise gestellt. Wahrscheinlich kann sie ihre Foltertonschleife schon selbst nicht mehr hören. Also geht es nur sanft melodiewiegend zum ersten Zwischenhalt von Berlin nach Wien. Es gibt Kaffee und Schokoschnitte (Milkana ist auch ein Frauenname, habe ich gerade auf einer Todesanzeige in der Zeitung gelesen). „Still oder prickelnd“, das ist ein kurze Flugstunde lang die einzig entscheidende Frage. Ich bin in wichtiger Musikmission unterwegs. Nach einem kurzen Zwischenstopp geht es weiter nach Shanghai, die Wiener Symphoniker beglücken das Riesenreich der Mitte mit Beethoven. Und in den wuseligen, aber eben auch der Moderne zugewandten Metropole am Perlenfluss gibt es gleich alle Neune – den ersten kompletten Beethoven-Sinfonien-Zyklus ever! Zweieindreiviertel-Jahre bevor die ganze Welt den 250. Geburtstag des gebürtigen Bonners und Wahl-Wieners gebührend und sicher auch flächendeckend feiern wird.
Zwei-Orchesterdrittel von 100 Musikern amt ihrem Chefdirigenten Philippe Jordan sind bereits via Hongkong vor drei Tagen nach China eingereist und haben heute die Einwohner des nahen Shenzen mit der 4. und 5. Sinfonie beglückt. Als Sätttigungsbeilage gab es drei Ungarische Tänze von Brahms und den „Chineser Galopp“ von Johann Strauss. Die nachreisenden Streicher, Holz- und Blechbläser für die größer besetzten späten Sinfonien plus einem Perkussionisten und einem zusätzlichem Konzertmeister, insgesamt 26 Köpfe stark, fliegt jetzt ereignislos und filmgesättigt 10 Stunden lang direkt nach Shanghai. An der internationalen Ausreise in Wien ist es leer, zweimal China und viel Osteuropa steht auf dem Flugplan.
Im Bordshop sind nur noch der Kristallschmuck und die Mozartkugeln österreichisch, also müssten die Symphoniker jetzt noch stärker als Markenbotschafter ran. 9.571.302 Quadratkilometer und 1,37 Milliarden Menschen sind in der rot-gelben Volksrepublik noch weitgehend Beethoven-frei; ganz besonders in der sinfonischen Komplett-Version! Da müsste doch noch was zu holen sein. Ankommen, Immigration, Gepäck, Bus, das alles ist lässig hingenommene Tourneeroutine, ohne weitere Vorkommnisse. Ein letzte Bus-Lektüre: ausgerechnet Rezensionen von diversen Maria-Theresia-Biografien. Wir sind sehr früh, der Tag muss überlebt werden. Zum Glück sind die Zimmer bezugsfertig, ein Teil der Musiker geht bereits auf einen Ausflug, um nicht einzuschlafen.
Um 16 Uhr kommt nach zwei Stunden Flug der Shenzen-Orchesterteil im Hotel an. Bereits um 17 Uhr gibt es in einem engen Kellersalon einer Pressekonferenz. „Do Right Things 2017“ verheißt nebenan ein Konferenztransparent. Die Symphoniker tun sicher das richtige Beethoven-Ding. Intendant Johannes Neubert und Philippe Jordan sprechen ausführlich und leidenschaftlich über dieses sehr besonderes Projekt: Schließlich ist es auch der erste Beethoven-Zyklus des Orchesters seit 20 Jahren – und der erste in nur vier Konzerten an aufeinanderfolgenden Tagen. Jordan hat so was bisher nur, und da auch nicht so eng, bei Wagners „Ring des Nibelungen“ erlebt.
Der Saal ist voll, etwa dreißig, meist weibliche und junge Journalisten haben sich platziert, drei Kamerateams stehen in Position. Nach dem inhaltlichen Statements werden Gastgeschenke ausgetauscht, darauf legt man in China sehr viel Wert. Die Wiener bekommen sieben Charaktere aus der Peking Oper als Figürchen, die Chinesen des Konzerthauses Shanghai Oriental Art Center dürfen eine Jordan-CD (laut bejubelt) und eine Sachertorte (zum Teil kenntnisreich kommentiert) mitnehmen. Leise klicken Handys und Laptops, die Beethoven-Message, nach der viel gefragt, die in allen Details erschöpfend eine Stunde lang ausgelotet wird, verbreitet sich fast in Echtzeit rasch über das Netz: In China mag zwar Facebook und Twitter kaum zu erreichen sein, aber die Zukunft der Berichterstattung ist bereits multi- und crossmedial.
Die alten Europäer aber schwärmen zum Essen aus in die milde, von weihnachtsdekoartigen Wackelvögeln und Diodenschneeflocken in den Alleebäumen beleuchteten Shanghaier Nacht, so mancher findet sich beim Dim-Sum-Geheimtipp an der West Nanking Road wieder. Nachher wird an der Hotelbar noch ein wenig Bettschwere getankt. Morgen stehen lange Tagesproben an. Die 8. und die 9. Sinfonie müssen chinafertig optimiert werden. Und erstmals wird sich der lokale Conservatory Choir hören lassen. Möge das all inclusive Beethoven-Abenteuer beginnen.
Der Beitrag Freude, schöner China-Böller: mit den Wiener Symphonikern auf All-Beethoven Mission in Shanghai – Teil I erschien zuerst auf Brugs Klassiker.