Shanghai im Regen, das hat plötzlich etwas Weiches, Melancholisches. Hochhäuser hinter einem Wasservorhang, Büroturmsäulen, die im Nebel verschwinden, bunte Lichterpunkte hinter beschlagenen Scheiben. Das kann aber auch bedeuten: vier öde Stunden im Bus, Stillstand im Tunnelstau, um morgens zur Probe und zurück ins Hotel und abends auf demselben Weg zum Konzert zu gelangen. Hier ist eben alles weit, selbst wenn man U-Bahn fährt, sind beim Umsteigen gefühlte Kilometer zu Fuß zurückzulegen. Doch so kommt man in den Genuss der unterschiedlichsten Instrumentalisten-Unterhaltungen: Mal geht es um den Unterschied zwischen Halb- und Sitz- und Anspielproben, Anstrichen oder nicht für Dienste, Ruhezeit und 24-Stunden-Regelung; ein Klangkörper kann eben auch sehr bürokratisch sein. Zwei Bläser unterhalten sich ausführlich über Mundhygiene und den besten Zahnarzt, einige Streicher klopfen Wiener Kammermusik-Muggen bis in den August hinein fest.
Symphoniker-Intendant Neubert gibt an die Damen vom Betriebsbüro die Parole aus: Powernap ist wichtiger als Nachtruhe. Was sich fast bewahrheitet hätte. Denn die norwegische Sopranistin Marita Sølberg, die sonntags in der 9. Sinfonie hätte mitsingen sollen, hat Visumsprobleme. Die sich zur Unmöglichkeit ausweiten. Jetzt müssen die Kontakte der chinesischen Promoter helfen. Tun sie nicht. Erst lässt man Sølberg in Oslo auf der Botschaft verharren, dann bekommt sie den Passierschein nicht. Wohl weil sie früher mal eine „Free Tibet“-Liste unterschrieben hat, wird gleich gemutmaßt. Aber es sind wohl die traditionell schlechten diplomatischen Beziehungen der Norweger zu den Chinesen und eine schusselige Agentin, die den Antrag zu spät abgegeben hat. Das war es dann.
Jetzt rotieren alle, Namen werden durchdekliniert. Doch am Ende muss pragmatisch entschieden werden. Es kommen zu diesem späten Zeitpunkt nur noch Chinesinnen in Frage, die kein Visum brauchen. Zwei sind noch in der Auswahl, keine hat den Part bisher gesungen. Philippe Jordan hört sich Soundfiles und Youtube-Clips an, was sich angesichts des lahmen Hotelinternets als Ding der Fast-Unmöglichkeit herausstellt. Er entscheidet sich für diejenige, die lyrischer klingt. Ein paar Stunden später schon sitzt He Wu in London im Flugzeug.
Ein Beethoven-Zyklus ohne Neunte, das wäre es gewesen, stöhnt so mache(r) aus der Administration. Denn auch der lokale „Freude“-Chor schwächelt. Es ist eigens ein Assistent des Direktors des Wiener Singvereins dabei, um die Damen und Herren des Konservatoriums in Shanghai, bzw. des Chores in Nanjing, wo das Stück zwei Tage später wiederholt wird, Beethoven-fit zu machen. Aber man hat ihn nicht wirklich gelassen. Die Höreindruck von Jordan, der nach dem langen Probentag auch noch in die Hochschule gefahren wird: suboptimal. Er nimmt es gelassen: „Hauptsache sie halten Tempo und Tonhöhe, über Dynamik und Diktion reden wir lieber erst gar nicht.“ Dafür ist er jetzt – schmacht! – auf vielen Studentinnen-iPhones als Bildschirmschoner. Darin ist diese handygesteuerte Gesellschaft sehr schnell.
Ablenkung verschafft, wie so oft in China, das Essen. Alles dreht sich auf der Scheibe in der Tischmitte, der geschnetzelte Aal mundet vorzüglich, vom ebenfalls leckeren Frosch-Stew nimmt Philippe Jordan Abstand. Lotusscheiben und Seegurken sind aus, zerhacktes kaltes Huhn in Alkohol und Knoblauchgarnelen werden gern genossen. Aber um 10 Uhr ist finito, die gerade noch freundliche Dame, die schon flüsternd aber bestimmt die last order angemahnt hat, weist unerbittlich zur Tür. Der Chinese isst eben früh. Nicht gerade praktisch, wenn man nach dem Konzert erst um 11 Uhr wieder im Hotel ankommt. Zum Glück ist im Bahnhof gegenüber ein Supermarkt, der die glutamatsatten Instantsuppen steigenweise bereithält.
Weitere Aufregung: ein Geiger ist im Krankenhaus. Verdacht auf Herzrhythmustörungen. Freilich: Das erste Konzert ist inzwischen absolviert! Beethoven 0.4 made in Vienna for Shanghai hat begonnen. Mit gleich drei Sinfonien: 1, 2 und 3. Es startet entspannt mit einem delizös leicht vor dem Schlag platzierten Septakkord-Pizzicato der Ersten Geigen, um sich ohne Eile und überzüchtete Manier ganz sanft zu entfalten. Hier schlüpft die Klassik aus dem Ei und ist noch ein flaumigweiches Küken, kein historisch informiert wildes Gör.
Nach 1.1. strömen noch viele Spätkommer in den Saal. Oder haben sie last minute bei den vielen Schwarzhändlern vor der Tür gekauft? Wir werden das herausbekommen. Sie jedenfalls kommen in den Genuss des feingeistig sich entwickelnden Fugato-Beginns des vorbildlich con moto genommenen Andantes. Das Scherzo-Menuett und das langsam sich disponierende Final-Allegro atmen tänzerische Lust. Hier ist der durchaus schon raffiniertere Haydn auf Augenhöhe erreicht.
Ähnlich plastisch ausziseliert, aber eben auch elegant balanciert dirigiert Philippe Jordan die 2. Sinfonie. Das ist kein extremes Sturm-und-Drang-Rauschen, der Aufbruch findet erst nach der Pause statt. Moderne steckt hier im liebevoll modellierten Detail. Man spürt: Jordan und sein Orchester sind im Spiel wie in den Aufnahmesitzungen sehr Beethoven-affin geworden. Sie wissen beiden, was sie wollen, reagieren unmittelbar. Seine Gestik ist knapp, das Orchester folgt trotz Jetlag, langen Fahrten und neuer, jetzt nicht mehr kalter Halle präzise und geschlossen, aber trotzdem mit viel Freiheit im Spiel.
Wie dann besonders glücklich in der dramaturgisch stringenten Eroica zu hören ist, die so gelingt, wie Jordan es wollte: menschlich, nicht heroisch, präsent, nicht verhetzt, die vielen innovativen Details auskostend – etwa das Spiel mit Synkopen –, aber sie nicht ausstellend. Diese 3. Sinfonie hat Fluss und Funken, nichts wirkt ostentativ, erzwungen, überspitzt. Es ist meine dritte Dritte in kurzer Hörerzeit: nach dem etwas erratischen, aber trotzdem in der Artikulation pointierten Christoph Eschenbach mit den Bamberger Symphonikern und dem alles anders machen wollenden Teodor Currentzis mit seiner nicht eben kultivierten Ensemble MusicAeterna. Jordan und die Seinen gehen da einen goldenen Mittelweg: Altes, Vertrautes mischt sich mit Neuem, diese Lesart ist gut abgewogen zwischen den diversen Interpretationsströmungen und hat trotzdem einen eigenen Zugang, melodisch, strukturiert, nie die großen Bögen vernachlässigend. Ein Hörgenuss.
Der Beitrag Freude, schöner China-Böller: mit den Wiener Symphonikern auf All-Beethoven-Mission in Shanghai Teil III erschien zuerst auf Brugs Klassiker.