Das Publikum im knapp 2000 Menschen fassenden Großen Saal des Shanghai Oriental Art Center ist jung und casual, nicht wenige Kinder, Säuglinge wie Vorschulalter, sind anwesend. Zwei Tigermoms hinter dem Podium ermuntern die Sprösslinge zum Klatschen, keiner schreit oder schläft. Disziplin gilt hier viel – nur nicht bei der rücksichtslosen Drängelei in der Metro. Zahlreich und scharf ist auch das geschniegelte wie verkabelte Einlasspersonal, das keinen durch die falsche Tür rein und rauslässt. Der kleine Backstage-Grenzverkehr, in den meisten Sälen über diskrete Seiteneinlässe abgewickelt, ist hier unmöglich. Schon in den Proben ist jeder Zugang den mit Kacheln ausgekleideten amorph sich krümmenden Foyers verrammelt. Vor dem Konzert müssen die Einlassleute auch fegen, Geländer polieren und Werbematerial verteilen. Laserpointer für Handy-Sünder sind passé, jetzt hält man ihnen mit strafendem Blick ein großes Schild vor, auf dem es in Chinesisch Grün und Englisch „Mobile off“ leuchtet.
Die Musiker der Wiener Symphoniker genießen den Luxus, eine Tournee-Woche im gleichen Hotel zu sein, so etwas ist die absolute Ausnahme. So kennt man die Wege, weiß Lokale und Supermärkte, genießt Schwimmbad wie Spa. Übt in Ruhe oder schläft einfach einmal nur aus. So handhabt es auch Philippe Jordan: „Total toll, nach einem späten, guten ausgiebigen Frühstück gehe ich einfach wieder ins Bett. Das bringt die meiste Energie.“ Alle Sinfonien dirigiert der 42-Jährige auswendig. Ob alle Neune beim Schlafen routieren?
Nichts davon ist zu spüren als wir uns mittags beim Japaner im Hotel treffen. Sushi, Shashimi, Misusuppe, Tempura, Salat, Pickles, Algen, frisches Obst – gesünder geht kaum. Klar, Beethoven stand von Anfang an auf der Agenda, als er vor drei Jahren das Orchester übernommen hatte. Aber erst einmal wollte man sich beim kompletten Schubert zusammenfinden, quasi auf halbem Weg zwischen der sonst hier meist gepflegten Spätromantik und der Wiener Klassik: „Ich möchte Beethoven nicht den Kammerorchester und Period Bands überlassen. Auch ein Sinfonieorchester muss hier mitreden, ich habe meine Lektionen in Sachen Artikulation und Dynamik gelernt. Das will ich aus einem Traditionsklangkörper herauskitzeln.“
In seiner zweiten Saison hat er die Beethoven-Klavierkonzerte mit Orchestermusik von Béla Bartók kombiniert, „und so haben wir die Annäherung spielerisch geschafft. Dann waren wir im Klang drin. Der Rest war viel Feinarbeit, bei grundsätzlicher Übereinstimmung. Denn auch das Orchester wollte es anders machen als früher.“ Früher, das war vor zwanzig Jahren beim letzten Zyklus, unter Vladimir Fedoseyev. Natürlich ein ganz anderes Künstlerkaliber als Jordan. In Wien war es jetzt etwas gedrängelt. Denn eigentlich waren für die anvisierte China-Tournee nur ein paar Beethoven-Sinfonien geplant. Doch weil es das hier im ganzen Land noch nicht von einem Fremdorchester gab, wurden plötzlich alle Neune daraus. Zweimal. Dann aber sprang Peking wieder ab. Im Oriental Art Center aber hielt man am Kleeblatt der vier Shanghai-Konzerte fest. Wohlmöglich auch ein Zeichen der ewigen Rivalität zwischen den beiden Monstermetropolen…
Und so musste in Wien jetzt sogar noch eine Pastorale zusätzlich in den eh schon engen Terminplan des Orchesters eingeschoben werden, so dass die Stücke einigermaßen frisch und abrufbereit sind. Was aber eben auch ungewöhnlich viele Proben vor Ort nötig macht. Nächstes Jahr wird der Zyklus ab Silvester innerhalb von drei Wochen dann auch noch im Konzerthaus gegeben. „Wien verkraftet das und der Konzerthaus-Intendant hat uns sehr darum gebeten“, so Symphoniker-Intendant Johannes Neubert.
Beethoven als Orchesterziehungsmittel, das hatte Philippe Jordan bereit bei seinem Antritt als Chef der Pariser Opéra als Parole ausgegeben. „Das sind ja dort faktisch sogar zwei Orchester, für jedes Haus eines. Mit denen habe ich zunächst je zwei „Ring“-Teile erarbeitet, denn Wagner ist ebenso wichtig. Dann kamen die Sinfonien in fünf Konzerten über die Saison verteilt dran, dann kannten wir uns wirklich.“ Und sein Intendant Stéphane Lissner hat sogar noch eine TV-Aufzeichnung für Arte organisiert, für die sich dann auch eine DVD-Firma interessierte. Die Symphoniker folgen nun mit vier CDs plus anschließender Box bis 2020. Dem Beethoven-Jahr, indem der Dirigent dann gleich doppelt medial aufgestellt sein wird: „Woran ich wirklich nicht gedacht habe“, versucht Jordan jeden Mitnahme-Effekt zu entkräften. „Das ist ein glücklicher Zufall, wir haben dann schon unsere Arbeit gemacht, wollen uns wohlmöglich auf anderes, Kontrastives konzentrieren.“
Da werden noch einige Zyklen züngeln – bis 2020. In Wien ist gerade Martin Haselböck mit seiner Wiener Akademie am Werkeln. Gustavo Dudamel zieht gegenwärtig mit dem Bolivar Orchester durch die europäischen Hallen, kommt bald damit nach China. Auch in Wien waren die Kritiken vorwiegend gemischt. Medialen Niederschlag wird das ebenso finden wie der bis zum 250. Beethoven-Geburtstag vollendete sinfonische Durchmarsch von Andris Nelsons mit den Wiener Philharmonikern.
Die halbe Probe für das zweite Konzert war gut angelegt. Effizient feilt man an Schlüsselmomenten, man will sich die Energie für später aufsparen. Es ging ihr sogar noch ein ungewöhnlich akribisches Einspielen als elfenhaft zirpende Katzenmusik voraus. 4. und 5. können sich als distinguierte Ansätze hören lassen. Und zur Beethoven-Halbzeit muss man konstatieren: Diese Fünfte ist sensationell in ihrem funkigen Furor, das ist schnell, harsch und trotzdem mitreißend. Das Werk hat plötzlich eine frische Lakonie. Jordan lässt keinerlei Schleppen, keinen Schlendrian durch. Diesmal scheint klanglich sein Schwerpunkt hin zu den tiefen Streichern verlagert. Kurz und knapp, modern klingt es. Jeder auf dem Podium hört aufmerksam zu, nimmt ab und auf.
Das Orchester genießt den Luxus, da weitermachen zu können, wo es gestern aufgehört hat. Die 4. Sinfonie dirigiert Jordan gerade nicht als Werk des Übergangs, sucht – drama, baby! – nach Spannung und Raffinesse und findet sie auch. Schon in dem allem vorgeschalteten b-moll-Adagio, das in seiner minimalistischen Pointiertheit, von einer geradezu aufreizend ausgekosteten Spannkraft erklingt, bis es endlich in B-Dur losfedert. Und in so dichter Folge merkt man: Philippe Jordan liebt dritte Sätze. Das Tänzerische im Scherzo treibt er energetisch voran. So kann er es sich auch leisten, die Fünfte ohne großes Pathos mit wirklich rasanten Tempi zu nehmen. Kraft und Nachhaltigkeit hat sie trotzdem, die Bauart wir so vielleicht noch deutlicher: Beethoven, der Sinfonien-Fabrikant, der jedes Mal eine andere Marke lanciert. Und dem trotzdem die Transzendenz nicht abhanden kommt. Aber das Titanische.
Nach dem gefallenen Helden der Eroica nun also ein Schicksal, das nicht anklopft, sondern das einfach nur sinfonisch klug und souverän an der Hand genommen wird. Das Orchester exzelliert, hat sich völlig freigespielt, kommuniziert über die Instrumentengruppen hinweg, der Dirigent setzt Prozesse in Gang und lenkt in Bahnen, wo diese dann fast wie von selbst laufen. Große Kunst der Raubtiernummer. Die Zuschauer klatschen und kreischen sich in Begeisterung, Blumen gibt es nicht nur für Jordan, sondern auch für den Konzertmeister. Dem müssen zwei Zugaben folgen: die Egmont-Ouvertüre als nochmals alles bündelndes Klangdrama, tuttischroff, mit sehr langen Generalpausen und einer hinreißenden Coda sowie Brahms überschäumender Ungarischer Tanz Nr. 1. Morgen wird es zwar wieder probenhart- und lang, jetzt aber ist noch ein Bierchen drin, in der Park Hyatt Bar über dem neonbunten Bund. Auf runden Aussichtsterrasse ist es zu kalt, aber einen Stock tiefer werden dazu geröstete Baby Squits und frische Früchte im leuchtenden Monstermartiniglas (in China muss der Wow-Effekt sein, erklärt der deutsche Barleiter) genossen.
Der Beitrag Freude, schöner China-Böller: mit den Wiener Symphonikern auf All-Beethoven Mission in Shanghai – Teil IV erschien zuerst auf Brugs Klassiker.